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Eine Nacht in Bari

Eine Nacht in Bari

Titel: Eine Nacht in Bari
Autoren: Gianrico Carofiglio
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perfekt war, sagte ich mir. Laut, aber nur in meinem Kopf.
    Wer weiß, bis zu welchem Grad unsere Erinnerungen wirklich mit der Erinnerung zusammenhängen und wie viel sie mit unserer Fantasie zu tun haben und unserem Bedürfnis nach Trost. Durch Lügen, Illusionen, Geschichten. Aber das betraf vielleicht nur mich. Vielleicht galt das nur für jemanden wie mich, der immer etwas außerhalb des Geschehens stand, etwas unscharf am Rand. Einen, der dem unangenehmen Menschen entsprach, den Paolo vorher bei seinem Gefühlsausbruch beschrieben hatte. Vermutlich hatte er recht, und diese Momente waren für ihn tatsächlich perfekt gewesen.
    Oder aber, dachte ich in einer plötzlichen Eingebung, sie waren auch für mich perfekt gewesen, nur dass ich es nicht gemerkt hatte und sie einfach vergehen ließ. Dieser Gedanke versetzte mich in eine beginnende Panik. Falls diese Intuition stimmte, hatte ich das Leben vorbeiziehen lassen, ohne es zu merken.
    Glücklicherweise unterbrach Paolo die lautstarke, wirre, angstvolle Unterhaltung, die in meinem Kopf stattfand.
    »Gibt es einen Moment, den du noch einmal erleben möchtest?«
    Ich überraschte mich dabei, wie ich antwortete, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken.

    »Erinnerst du dich an das Volksfest bei der Fiera del Levante?«
    Das war eine dumme Frage. Für jeden Menschen, der in den Sechziger- oder Siebzigerjahren Kind war in Bari, war September gleichbedeutend mit der Fiera del Levante mit ihrem großen, bedrohlichen und faszinierenden Volksfest und den Filmen, die um zehn Uhr vormittags von der Rai nur in der Region um Bari ausgestrahlt wurden.
    Heute ist es schwer, die Sensation nachzuvollziehen, die das bedeutete, aber damals war das Fernsehen schwarz-weiß, es gab nur zwei Sender, und wenn man den Fernsehapparat versehentlich am Vormittag einschaltete, gab es nur ein starres Testbild, das von einem penetranten, unangenehmen Pfeifton begleitet wurde. Der Zauber der vormittäglichen Filme wurde auch dadurch nicht geschmälert, dass das Repertoire hauptsächlich aus Streifen aus den Fünfzigerjahren bestand, die von Amedeo Nazzari interpretiert wurden (wenn man das so nennen kann) und so nüchterne Titel trugen wie Der weiße Engel oder Die Herrin von Atlantis .
    »Ob ich mich daran erinnere? Es war einer der Orte, die mich in meinem ganzen Leben am meisten angezogen und erschreckt haben, beides zugleich. Wie der Zirkus.«
    »Es gab da ein Mädchen, Laura, die Tochter von Freunden meiner Eltern. Sie war ein paar Monate älter als ich und wunderschön. Sie war natürlich blond, blauäugig und hatte lauter Grübchen, wenn sie lachte. Sie war elegant und biegsam und sympathisch und … einfach
wunderbar. Ich konnte sie nicht ansehen, wenn wir uns bei einem Fest begegneten, ohne rot zu werden und eine beinahe unerträgliche Sehnsucht zu verspüren. Sie war die Perfektion und deshalb ahnte ich, dass sie für mich restlos unerreichbar bleiben würde.«
    Paolo schien etwas sagen zu wollen, verzichtete aber dann darauf und ließ mich weitersprechen.
    »Ich war elf Jahre alt, es war September und der Nachmittag mit dem Ausflug zur Fiera del Levante rückte näher, und damit auch das Volksfest. Wir waren zu dritt, meine Mutter, mein Bruder und ich. In der Galerie der Nationen, vor dem Stand irgendeines afrikanischen Landes – ich weiß nicht mehr, welches, aber es gab Trommeln und Elfenbeinschnitzereien und Schwarze, die mit bunten Gewändern bekleidet waren – trafen wir Laura und ihre Mutter. Die Mütter begrüßten sich, plauderten ein wenig und beschlossen dann, den Besuch gemeinsam fortzusetzen. Als ich begriff, dass das Schicksal mir einen Besuch der Fiera und des Volksfestes praktisch allein mit Laura beschert hatte (mein Bruder war erst sechs und zählte daher nicht), wollte mir das Herz zerspringen vor Glück. Es wurde ein unvergesslicher Nachmittag. Es war das erste Mal, dass ich mit ihr sprach, abgesehen von ›ciao, ciao‹ auf den Festen. Ich entdeckte, dass sie auch noch sympathisch war, überhaupt nicht eingebildet, und dass sie noch toller war, als ich dachte. Wir kauften ein Brot mit Würstchen im deutschen Pavillon, Zuckerwatte und Aida-Süßigkeiten. Beim Volksfest vergnügten wir uns dann bei verschiedenen Attraktionen.«

    »Auch in der Geisterbahn, du alter Schwerenöter?«
    »Genau, auch in der Geisterbahn. Ein Teufel sprang plötzlich auf uns zu und sie schrie, klammerte sich an mich, und ich weiß heute noch – als wäre sie jetzt hier -, wie ihr Haar
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