Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Nacht in Bari

Eine Nacht in Bari

Titel: Eine Nacht in Bari
Autoren: Gianrico Carofiglio
Vom Netzwerk:
das sagte, so dass ich ahnte, dass Mamas Vergangenheit Geheimnisse barg, von denen ich
nichts wusste. Also fragte ich weiter. Um hinter diese Geheimnisse zu kommen, aber auch um dieses vage und ein wenig beängstigende Gefühl loszuwerden.
    »Weißt du, ob es hier in Bari an Weihnachten jemals geschneit hat?«
    »Ja. Deine Großmutter hat erzählt, dass sie einmal, vor vielen Jahren, noch bevor ich auf der Welt war, am 25. aufgewacht sind, und alles war weiß. Dieses Weihnachten war wunderschön, sagte sie.«
    »Ich hätte so gern Weihnachten mit Schnee. Wenn man Glück hat, kann man dann in der Weihnachtsnacht den Weihnachtsmann sehen, wie er mit seinem Schlitten aus Finnland kommt.«
    Ich weiß noch genau, dass meine Mutter an dieser Stelle das Buch beiseitelegte, vom Schaukelstuhl aufstand und zu mir herüberkam.
    »Weißt du denn nicht, dass Bari die Heimat des Weihnachtsmanns ist?«
    »Was sagst du da, Mama? Der Weihnachtsmann kommt aus Finnland, das habe ich in der Micky Maus gelesen.«
    »Das ist aber falsch. In Finnland ist nur das Spielzeuglager. Der Weihnachtsmann wohnt in Bari.«
    Ich sagte ihr, dass ich das unmöglich glauben könne, und war mir sicher, dass sie mich auf den Arm nahm. Da erklärte sie mir ganz ernst, dass »Weihnachtsmann« einer der Namen für San Nicola sei, den Schutzpatron von Bari, der in der Basilika in der Altstadt zu Hause sei, nahe am Meer.
    Als ich immer noch skeptisch war, zeigte sie mir ein Buch, in dem die Geschichte von San Nicola- Santa Claus –
dem Weihnachtsmann also – erzählt wurde. Aus dem Buch ging eindeutig hervor, dass es sich um dieselbe Person handelte. Außerdem gab es auch noch Bilder, auf denen die Ähnlichkeit – wie mir schien – ganz eindeutig zu erkennen war.
    »Hör mal, aber wenn der Weihnachtsmann San Nicola ist, warum sagt das dann keiner? Ich habe es in keiner Kinderzeitschrift gelesen, in keinem Buch. Nicht einmal die Lehrerin hat das gesagt. Wenn es wahr wäre, müssten sie das doch sagen.«
    »Keiner spricht darüber, weil es ein Geheimnis ist. Wir gehören zu den wenigen, die davon wissen. Der Weihnachtsmann will seine Ruhe haben, wenn er nach Hause kommt – nach Bari -, weißt du?«
    Das klang glaubwürdig, und ich ließ mich überzeugen. Ich war auf einmal merkwürdig aufgeregt. Jetzt war es mir egal, dass es nicht schneite, sondern regnete wie verrückt. Es war mir auch egal, dass der Ort, an dem ich lebte, ganz anders war als in den Filmen.
    Ich war einfach froh – so froh, wie nur Kinder es sein können. Ich hatte entdeckt, dass ich an einem außergewöhnlichen Ort wohnte, ja sogar an einem einzigartigen Ort: dem geheimen Wohnort des Weihnachtsmanns. Das war unglaublich, es war ein Zauber, der mein Leben plötzlich veränderte. Der nur mir gehörte, mir allein.
    »Wenn das ein Geheimnis ist, dann darf ich es also keinem sagen?«
    Bis heute hat sich mir das Gesicht meiner Mutter fest eingeprägt: wie sie ein paar Sekunden lang nachdenkt, bevor sie antwortet. Während sie mir über die Stirn
streicht und mit zwei Fingern eine Haarsträhne, die mir in die Augen fällt, beiseiteschiebt. Ihr Gesicht hebt sich ab von der dunklen Masse unklarer oder für immer verlorener Erinnerungen.
    »Du darfst es nur deinen Kindern sagen, wenn du einmal groß bist. Nur ihnen.«

    Ich erzählte diese Geschichte gerade meinen Freunden, als wir beim Flughafengelände ankamen, wo es genauso dunkel war wie damals vor vielen Jahren. Ich weiß nicht, ob ich sie zum Besten gab, weil Giampiero uns von seiner Tochter erzählt oder weil Paolo über die Legenden der San-Nicola-Basilika gesprochen hatte oder weil es ein Märchen war, das vielleicht den Schmerz dieser Nacht wenigstens ein klein wenig lindern konnte.
    Es kam mir vollkommen normal vor, sie zu erzählen, während wir darauf warteten, dass das Flugzeug startklar war.
    Zur Einfriedung der Landebahn zu fahren und zuzusehen, wie das Postflugzeug oder der Frachtflieger abhoben, war etwas, was wir mindestens zwei, drei Nächte im Jahr machten, wenn wir durch die Lokale gezogen waren oder Karten gespielt hatten oder von einem Fest kamen. Es war eine Art Ritual, dessen Bedeutung für uns nur sehr undeutlich zu erkennen war – vorausgesetzt, es gab überhaupt eine Bedeutung.
    Es ging so: Wir kamen alle zusammen an, mit höchstens zwei Autos. Manchmal waren auch Mädchen dabei, aber meist waren wir Jungs unter uns. Wir setzten uns
auf den Boden vor den Zaun, reichten Bierflaschen und Zigaretten herum und warteten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher