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Eine Minute der Menschheit.

Eine Minute der Menschheit.

Titel: Eine Minute der Menschheit.
Autoren: Stanislaw Lem
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Kindern, Greisen, Frauen, Neugeborenen aller Nationalitäten und Rassen, die immateriell außerhalb der Zahlenreihen anwesend sind, nicht die Hauptsensation dieses Buches. Nachdem ich diesen Satz geschrieben hatte, überlegte ich noch einmal, ob er die Wahrheit sagt, und ich wiederhole: Nein, sie sind es nicht. Mit dieser Unmenge menschlichen Sterbens verhält es sich ein wenig so wie mit dem eigenen Tod: als wüßte man davon schon im vorhinein, aber bloß auf die allgemeine, nebelhafte Art und Weise, mit der wir die Unvermeidlichkeit der eigenen Agonie begreifen, obwohl wir nicht genau wissen, wie sie aussehen wird.
    Das eigentliche Riesenausmaß des Lebens in seiner ganzen Körperlichkeit wird uns schon auf den ersten Seiten gezeigt. Die dort angeführten Daten sind unumstößlich. Man kann schließlich die Genauigkeit der Angaben über das Sterben in Frage stellen. Sie beruhen auf Durchschnittszahlen. Es ist schwer anzunehmen, daß die Taxonomie und die Kausalität der Todesfälle mit voller Exaktheit erfaßt werden können. Übrigens leugnen unsere loyalen Autoren auch gar nicht die Möglichkeit statistischer Abweichungen. Schon in der Einleitung beschreiben sie sehr gründlich die in ihren Berechnungen angewandten Methoden und weisen auf die Computerprogramme hin, auf die sie sich gestützt haben. Diese Methoden schließen sogenannte Standardfehler mitnichten aus, doch sind letztere für den Leser belanglos; denn was für einen Unterschied macht es schon, ob in jeder Minute siebentausend-achthundert oder achttausendeinhundert Neugeborene sterben? Übrigens sind diese Abweichungen angeblich geringfügig wegen des sogenannten Effekts des Bilanzausgleichs. Zwar ist die Zahl der Geburten (wenn wir schon darauf zu sprechen kommen) in verschiedenen Jahres- und Tageszeiten nicht gleich, aber auf der Erde koexistieren miteinander alle Jahreszeiten, alle Stunden des Tages und der Nacht zugleich, somit bleibt die Summe der Todesfälle bei der Geburt stabil. Es gibt jedoch andere Rubriken, deren Daten auf indirekten Schlußfolgerungen aufgebaut sind, weil zum Beispiel weder die staatliche Polizei noch private Mörder, Berufskiller oder Amateure (mit Ausnahme ideologisch motivierter) Berichte über die Effektivität ihrer Arbeit veröffentlichen. Hier könnten Fehler in der Größenordnung tatsächlich einiges Gewicht besitzen.
    Die Statistiken des ersten Kapitels sind hingegen unanfechtbar. Sie geben an, wie viele Menschen- also lebendige menschliche Leiber — es in jeder von den 525 600 Minuten des Jahres gibt. Wie viele Leiber, das heißt: wie viele Muskeln, Knochen, Galle, Blut, Speichel, Zerebrospinalflüssigkeit, Kot usw. Wenn es darum geht, dem Leser eine gewaltige Größenordnung zu versinnbildlichen, greifen die Autoren populärwissenschaftlieher Werke gerne zu bildlichen Zusammenstellungen. Das tun auch die Johnsons. Würde man also die gesamte Menschheit versammeln und an einer Stelle zusammenpferchen, so würde sie einen Raum von dreihundert Milliarden Liter, also nicht ganz ein Drittel eines Kubikkilometers, einnehmen. Das scheint viel. Aber die Weltmeere enthalten eine Milliarde zweihundertfünfundacht-zig Millionen Kubikkilometer Wasser. Würde man also die ganze Menschheit, diese fünf Milliarden Menschenkörper, in den Ozean werfen, dann würde sich der Meeresspiegel nicht einmal um ein Hundertstel Millimeter heben. Mit diesem einen Aufplätschern würde die Erde ein für allemal menschenleer werden. Solche statistischen Spielereien kann man, durchaus zu Recht, als ziemlich billig bezeichnen. Sie sollen der Überlegung dienen, daß wir, die mit dem Schwung unseres Handelns die Luft, den Boden, das Wasser vergiftet, die Dschungel in Steppen verwandelt, Myriaden Pflanzen-und Tierarten, die Hunderte von Jahrmillionen gelebt haben, ausgerottet haben, wir, die wir andere Planeten erreicht und sogar die Albedo der Erde verändert und dadurch unsere Anwesenheit kosmischen Beobachtern verraten haben, daß wir also leicht und spurlos verschwinden könnten. Mich hat das jedoch nicht frappiert, ebensowenig wie die Berechnung, daß man der Menschheit 24,9 Milliarden Liter Blut abzapfen könnte, ohne daß dadurch ein Rotes Meer noch auch nur ein roter See entstehen würde.
    Des weiteren, unter dem Eliot entnommenen Motto, daß das menschliche Dasein »birth, copulation and death« sei, folgen neue Zahlen. In jeder Minute kopulieren 34,2 Millionen Männer und Frauen. Zur Befruchtung kommt es bloß in 5,7% des
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