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Eine Minute der Menschheit.

Eine Minute der Menschheit.

Titel: Eine Minute der Menschheit.
Autoren: Stanislaw Lem
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hat ihre philosophischen Wurzeln.
    In einer elitären deutschen Monatsschrift habe ich eine von einem zornigen Humanisten geschriebene Kritik der »Einen Minute« gefunden. Das Buch, sagt der Autor, habe aus der Menschheit ein Monstrum gemacht, einen Fleischberg, errichtet aus Leibern, Blut und Schweiß (die Abmessungen haben tatsächlich neben der Defäkation und dem Menstruationsblut auch die verschiedenen Arten des Schweißes erfaßt — denn anders schwitzt ein zu Tode erschrockener Mensch und anders ein schwer arbeitender), nachdem es diesen Leibern den Kopf abgeschnitten hat. Das geistige Leben ist nicht gleich der Zahl von Büchern und Zeitungen, die von den Menschen gelesen werden, noch mit der Zahl der Worte, die sie pro Minute aussprechen (letztere ist eine wahrhaft astronomische Zahl). Die quantitativen Zusammenstellungen der Theaterfrequenz oder der Zahl der Fernsehzuschauer mit der Konstante der Agonien, der Ejakulationen usw. sind irreführend, und es handelt sich hier um einen schwerwiegenden Irrtum. Weder der Orgasmus noch die Agonie sind spezifisch menschliche, ausschließlich menschliche Erscheinungen. Was wichtiger ist, ihr Inhalt erschöpft sich innerhalb der Physiologie. Die spezifisch menschlichen Angaben hingegen, wie etwa die psychischen Inhalte, werden durch die Auflagenziffern der Zeitschriften oder philosophischen Werke nicht nur nicht erschöpft, sondern in ihnen nicht einmal berücksichtigt. Das ist ungefähr so, als wollte man die Körpertemperatur der Temperatur der Liebesgefühle gleichsetzen oder unter dem Stich wort »Akt« Aktbilder, d. h. Bilder nackter Menschen, und Akte eines glühenden Glaubens nebeneinanderstellen. Dieses Chaos der Kategorien ist kein Zufall — den Autoren ging es gerade darum, den Leser durch eine aus Statistiken zusammengestellte Schmähschrift zu schockieren, uns alle durch einen wahren Hagel von Zahlen zu erniedrigen. Mensch sein, das heißt aber, ein geistiges Leben haben, und nicht nur eine Anatomie, die addiert, dividiert und multipliziert werden kann. Allein die Tatsache, daß das geistige Leben sich nicht messen und nicht statistisch erfassen läßt, macht den Anspruch der Autoren, ein Bild der Menschheit verfertigt zu haben, zunichte. In der buchhalterischen Parzellierung von Milliarden Menschen in Teilfunktionen, auf daß sie in die Rubriken der Autoren passen, steckt die Geschicklichkeit eines Pathologen, der Leichen seziert - und ein beträchtliches Stück Boshaftigkeit. Unter den Tausenden Stichworten des Sachregisters würden wir vergeblich nach einem solchen wie etwa »Menschenwürde« suchen.
    Auf die philosophische Wurzel, die ich erwähnt habe, ging auch ein anderer Kritiker ein. Ich habe den Eindruck (dies nebenbei), daß »Eine Minute« die Intellektuellen in eine gewisse Panik versetzt hat. Sie fühlten sich berechtigt, über solche Produkte der Massenkultur wie Guinness' Buch der Rekorde hinwegzugehen, aber »Eine Minute« bereitete ihnen einige Verlegenheit. Die besonnenen — oder auch nur schlauen — Johnsons haben nämlich ihr Werk durch eine gelehrte, methodologische Einleitung auf eine viel höhere Ebene hinaufgeschraubt. Auch haben sie vielen Einwänden vorgegriffen, indem sie sich auf moderne Philosophen beriefen, die die Wahrheit als den höchsten Wert der Kultur anerkennen. Wenn dem so ist, dann ist jede auch noch so deprimierende Wahrheit zulässig und sogar notwendig. Der Kritiker-Philosoph hat sich also auf das hohe Roß geschwungen, dessen Steigbügel ihm die Johnsons hielten; zuerst hat er den Wert der Johnsons gebührend eingeschätzt, um ihn dann wieder herabzusetzen.
    Wir sind, schrieb der Kritiker des »En-counter«, fast buchstäblich so behandelt worden, wie es Dostojewski in den »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch« so sehr fürchtete. Dostojewski war der Meinung, daß wir von dem durch die Wissenschaft behaupteten Determinismus bedroht seien, der jegliche Souveränität des Individuums, die sich in dessen freiem Willen äußert, auf den Müllhaufen wirft — wenn diese Wissenschaft imstande sein wird, jede Entscheidung und jedes Gefühl wie das Anschlagen einer mechanischen Taste vorauszusehen. Er sah keinen anderen Ausweg, keine Rettung vor der grausamen Voraussehbarkeit unserer Taten und Gedanken, die uns der Freiheit beraubt, als den Wahnsinn. Sein Mann aus dem Kellerloch bereitet sich auf den Wahnsinn vor, damit sein Geist, von Wahnsinn zerrüttet, nicht dem triumphierenden Determinismus zum Opfer falle. Nun
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