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Eine Minute der Menschheit.

Eine Minute der Menschheit.

Titel: Eine Minute der Menschheit.
Autoren: Stanislaw Lem
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komischen, bald makabren Beigeschmack haben. Der Mensch als Henker, Folterer und Mörder seiner eigenen Spezies wurde uns schon dort vorgestellt. Jetzt können wir erfahren, was für ein Räuber, oder, wenn jemand diese Bezeichnung vorzieht, Parasit der ganzen Biosphäre, also der Tier-und Pflanzenwelt er ist. Normalerweise empfindet niemand Gewissensbisse, wenn er sich über sein Filet oder Kotelett hermacht, ihm kommt gar nicht der Gedanke, daß er dadurch ebenso zum Komplizen des Schlächters wird wie einer, der dem Mörder hilft, die Leiche des Opfers zu beseitigen. Damit ihm solche Gedanken überhaupt nicht in den Sinn kommen und ihm nicht den Genuß der Fleischleckerbissen verleiden, haben alle Sprachen ohne Ausnahme eine besondere Terminologie entwickelt, die uns privilegiert. Wir sterben, die Tiere dagegen krepieren, gehen ein; und erst recht spricht jedes Wörterbuch des Jäger Jargons alles von jeglicher Schuld frei, was in der Juristensprache als vorsätzlicher Mord definiert wird, da doch der Jäger mit geladener Waffe sich in den Wald begibt, um zu töten. Nun geht »One Human Minute« über alle diese im Grunde scheinheiligen Feinheiten unseres Wortschatzes zur Tagesordnung über, es gibt nämlich nicht irgendwelche Namen an, sondern bloß die Zahlen unserer Opfer. Wie sich zeigt, fallen in jeder Minute von unserer Hand Tiere, die sich zu ganzen Bergen von Kadavern auftürmen, und ebensolche Berge von Kadavern werden in jeder Minute in Form von Braten von einigen Milliarden menschlicher Kiefer zerkaut. Es sind Bilder, wie leibhaftig Gullivers Reise nach Brob-dingnag entstiegen, wo das verführerische Lächeln eines schönen Riesenweibes einer Szene aus dem »Weißen Hai« gleicht, wenn sich der mit grauenhaften Zähnen bewehrte Rachen des Haifisches öffnet. Bekanntlich ist ein besonders erlesener Leckerbissen der Chinesen das Affenhirn, das roh aus dem soeben aufgespaltenen Schädel des noch lebenden Affen gelöffelt wird; obgleich es wohl nicht gelungen war, die Menge der auf diese Weise pro Minute verspeisten Affenhirne einigermaßen genau zu ermitteln, ist die entsprechende Zahl dennoch in der Rubrik der exotischen Speisen zu finden.
    Dem ewig sprudelnden Sperma-Geysir hat man in der neuen Auflage den Strom der Milch hinzugefügt, der aus Frauenbrüsten der ganzen Welt in die Mäulchen der Säuglinge fließt. Die in einem besonderen Kapitel - wahrscheinlich, um sie stärker zu exponieren — aufgezählten menschlichen Gebrechen und Verstümmelungen scheinen ein stummer, natürlicher Ausdruck unseres Schicksals zu sein. Diese Armeen von Blinden, Tauben, diese Millionen schon von Geburt an entstellten Körper, deren bloße Quantität beweist, wie wenig sich im Grunde genommen die Natur um jedes einzelne menschliche Individuum kümmert (obschon es uns doch in allen Religionen und in fast allen philosophischen Systemen so sehr darum geht, die Menschenwürde, die doch jedes Individuum verkörpert, zu retten), diese separat und geradezu pedantisch aufgelisteten Beschwerden des Greisenalters - das alles erweckt den Eindruck, als sei der, der diese Tabelle zusammengestellt hat, absichtlich darauf aus gewesen, alte Menschen rostenden Wracks oder maschinellem Gerumpel anzugleichen, die langsam zu Stücken zerfallen, wenngleich sie eine Zeitlang noch die mehr oder weniger ursprünglche Gestalt beibehalten. Selbst die ärztlichen Bemühungen, die doch der Erhaltung und Rettung menschlichen Lebens dienen, werden in ihren Folgen in dem Kapitel über Gebrechen so behandelt — als ganze Menschenmengen, einarmig oder einbeinig nach Amputationen, und gar die radikale Chirurgie, heute die Hauptmethode in der Bekämpfung des Krebses, bereichert die Welt in jeder Minute um so viele Frauen mit amputierten Brüsten, um so viele Menschen beiderlei Geschlechts nach einer Kastration, mit ausgeschnittenen Teilen der Gedärme, des Magens, daß es dem Auge schwer fällt, diesen Zahlenkolonnen bis zum Ende zu folgen.
    Ich stehe nicht allein da mit dem Verdacht, daß den Autoren die Absicht vorschwebte, die »Schlagkraft« dieses Buches, das immerhin so unleserlich ist wie jeder andere statistische Wälzer, zu vergrößern, und daß die neuen Kapitel, besonders die dem Schicksal von Kindern gewidmeten, eben diesem Zweck dienen. Dieses Schicksal war vorher über verschiedene Rubriken verstreut. Der größeren Anschaulichkeit halber hat man es nun in einem Kapitel zusammengefaßt. Der Effekt ist wahrhaftig grauenerregend; und
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