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Eine Minute der Menschheit.

Eine Minute der Menschheit.

Titel: Eine Minute der Menschheit.
Autoren: Stanislaw Lem
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— wegen allgemeinen Zeitmangels, des Überangebots an Büchern sowie der absoluten Perfektion der Werbung. Die Werbung ist heute als Neue Utopie Gegenstand eines Kults. Diese schrecklichen und langweiligen Dinge, die man im TV sieht, schauen wir uns alle deshalb an (wie Meinungsumfragen erwiesen haben), weil nach dem Anblick quasselnder Politiker, blutiger Leichen, die aus verschiedenen Gründen in verschiedenen Weltgegenden herumliegen, sowie von Kostümfilmen, bei denen man nicht weiß, worum es geht, weil es gewöhnlich endlose TV-Serien sind (man vergißt nicht nur, was man gelesen, sondern auch, was man gesehen hat), es gerade die Werbespots sind, die uns wunderbare Erleichterung und Entspannung bringen. Nur in ihnen hat noch Arkadien überlebt. In diesen Spots gibt es schöne Frauen und großartige Männer, auch erwachsene, glückliche Kinder und ältere Menschen mit gütigweisem Blick vorwiegend hinter Augengläsern. Als Objekt immerwährender Bewunderung genügt ihnen ein Pudding in einer neuen Verpackung, eine Limonade aus echtem Wasser, ein Spray gegen Fußschweiß, ein mit Veilchenextrakt durchtränktes Klopapier oder auch ein Schrank, an dem das einzige Außergewöhnliche der Preis ist. Der Ausdruck tiefster Glückseligkeit in den Augen, im ganzen Gesicht, mit dem die vornehme Schöne eine Rolle Toilettenpapier oder eine Schranktür betrachtet - als wäre es die Tür zum Sesam —, teilt sich im Nu jedem mit. In dieser Empathie steckt vielleicht ein Körnchen Neid, sogar einige Irritation, weil jeder von uns weiß, daß er nicht fähig wäre, beim Trinken dieser Limonade oder bei der Verwendung dieses Papiers ein solches Entzücken zu empfinden, daß also dieses Arkadien für ihn unerreichbar ist, doch das darin herrschende Schönwetter verfehlt seine Wirkung nicht. Es war mir übrigens im vorhinein klar, daß die Werbung, die sich im Daseinskampf der Waren auf dem Markt immer mehr vervollkommnet, uns nicht durch die besser werdende Qualität der Waren, sondern durch die schlechter werdende Qualität der Welt unterjochen wird. Was ist uns denn geblieben, nachdem Gott, höhere Ideale, Ehre, uneigennützige Gefühle gestorben sind, in den überfüllten Städten, unter dem sauren Regen — außer der Ekstase der Damen und Herren aus den Werbespots, die über Kekse, Puddings und Schmieröle in einem Ton sprechen, als würden sie den An-bruch des Reiches Gottes auf Erden verkünden? Weil aber die Werbung mit einer grauenerregenden Wirksamkeit jedes ihrer Objekte als vollkommen anpreist, also die Bücherwerbung — jedes Buch, fühlt man sich so, als wollten einen zwanzigtausend Schönheitsköniginnen zugleich verführen, und da man sich für keine entscheiden kann, steht man mit seiner unvollzogenen Liebesbereitschaft da wie ein Hammel im Stupor. So geht es mit allem. Das Kabelfernsehen, das einem gleichzeitig vierzig Programme liefern kann, erweckt im Zuschauer den Eindruck, daß — angesichts dieser Menge — jedes andere besser sein muß als das gerade angesehene, man springt also von Programm zu Programm wie ein Floh auf einer glühenden Bratpfanne, was nur beweist, daß vollkommene Technik vollkommenen Frust erzeugt. Man hat uns nämlich, wenngleich dies niemand ausdrücklich gesagt hat, die ganze Welt, alles versprochen, wenn nicht zum Besitzen, so zumindest zum Anschauen, zum Betasten; und auch die schöne Literatur, die ja nur ein Echo der Welt, ihr Abbild und Kommentar ist, ist in dieselbe Falle geraten. Warum sollte ich eigentlich lesen, was einzelne Personen verschiedenen oder desselben Geschlechts miteinander reden, bevor sie ins Bett gehen, wenn in diesem Buch kein Wort über Tausende andere, vielleicht interessantere Personen steht, oder mindestens über solche, die einfallsreichere Dinge tun? Man müßte also ein Buch darüber schreiben, was alle Menschen gleichzeitig tun, damit uns nicht mehr der Eindruck quält, daß wir hier albernes Zeug erfahren, während die wesentlichen Dinge anderswo geschehen. Das Guinness-Buch der Rekorde war ein Bestseller, weil es uns lauter außerordentliche Dinge zeigte, deren Authentizität garantiert war. Dieses Panoptikum der Rekorde hatte jedoch einen großen Fehler — es wurde rasch von der Zeit überholt. Kaum hatte ein Herr achtzehn Kilo Aprikosen mitsamt den Kernen verschlungen, kam schon ein anderer daher, der nicht nur noch mehr Aprikosen gegessen hatte, sondern gleich darauf an Darmverschluß gestorben war, was dem Rekord einen grausig-pikanten
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