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Eine Minute der Menschheit.

Eine Minute der Menschheit.

Titel: Eine Minute der Menschheit.
Autoren: Stanislaw Lem
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Geschlechtsverkehrs, aber das gesamte Ejaku-lat mit einem Volumen von 45 ooo Liter pro Minute enthält eine Billion neunhundert-neunzig Millionen (mit Abweichungen an der letzten Stelle) lebendiger Samenzellen. Genau dieselbe Zahl weiblicher Eier könnte - bei einer Minimalproportion von einer Samenzelle zu einem Ei — pro Stunde sechzigmal befruchtet werden, und dann würden, in diesem ganz unmöglichen Fall, in jeder Sekunde drei Millionen Kinder gezeugt werden. Diese Daten sind aber auch nur reine statistische Spekulation. Die Pornographie und die moderne Lebensart haben uns mit verschiedenen Formen des Geschlechtslebens bekannt gemacht. Man würde meinen, hier könne nichts mehr entblößt, nichts mehr gezeigt werden, was eine sensationelle Neuigkeit wäre. Statistisch erfaßt, ist es dennoch eine Überraschung. Unwichtig, daß wiederum mit Vergleichen und Gegenüberstellungen gespielt wird: Der Strom von Sperma, jene 43 Tonnen, die in jeder Minute in die weiblichen Genitalien gespritzt werden, macht 430 ooo Hektoliter aus, und die Statistik stellt sie mit den 37 850 Hektolitern siedenden Wassers zusammen, die bei jedem Ausbruch der größte Geysir der Welt (im Nationalpark Yellowstone) ausstößt. Der Sperma-Geysir ist 11,3 mal so stark und sprudelt ununterbrochen, pausenlos. Das Bild ist nicht obszön. Der Mensch kann sexuell nur innerhalb einer bestimmten Größenordnung erregt werden. Geschlechtsakte, sei es in starker Verkleinerung, sei es in riesenhafter Vergrößerung gezeigt, verursachen überhaupt keine sexuelle Erregung. Diese Erregung entsteht als Reflex in den entsprechenden Gehirnzentren, sie ist eine angeborene Reaktion und wird nicht unter Bedingungen geweckt, die über die visuelle Norm hinausgehen. Geschlechtsakte, die mikroskopisch verkleinert gezeigt werden, lassen uns kalt, weil sie Geschöpfe von den Dimensionen einer Ameise zeigen. Riesenhaft vergrößert, rufen sie Abscheu hervor, denn die glatteste Haut der schönsten Frau sieht dann wie eine weißliche, poröse Fläche aus, aus der Haare, dick wie Stoßzähne, herausragen, und den Mündungen der Talgdrüsen entströmt ein zäher, klebriger, glitzernder Brei. Die Überraschung, die ich erwähnt habe, hat eine andere Ursache. Die Menschheit pumpt pro Minute durch ihre Herzen 53,4 Milliarden Liter Blut, und dieser rote Fluß befremdet uns nicht, muß er doch fließen, um das Leben aufrechtzuerhalten. In derselben Zeit sondern die männlichen Genitalien 43 Tonnen Samen ab, und der Haken steckt darin, daß zwar jede Ejakulation auch ein gewöhnlicher physiologischer Akt, aber für den einzelnen Menschen ein unregelmäßiger, intimer, nicht allzu häufiger, ja nicht einmal ein unbedingt notwendiger Akt ist. Gibt es doch Millionen Greise, Kinder, Menschen, die in einem freiwilligen oder erzwungenen Zölibat leben, Kranke usw. Und doch fließt dieser weiße Strom mit derselben Beständigkeit wie jener rote. Die Unregelmäßigkeit verschwindet nämlich, wenn die Statistik die ganze Erde erfaßt, und das ruft Erstaunen hervor. Die Menschen setzen sich an gedeckte Tische, suchen nach Abfällen in Müllhaufen, beten in Gotteshäusern, Moscheen, Kirchen, fliegen in Flugzeugen, fahren in Autos, stecken in mit Atomraketen bestückten U-Booten, debattieren in Parlamenten, Milliarden Menschen schlafen, Leichenzüge gehen durch Friedhöfe, Bomben explodieren, Ärzte beugen sich über Operationstische, Tausende Professoren und Dozenten besteigen gleichzeitig ihre Katheder, Theatervorhänge gehen auf und nieder, Überschwemmungen ergießen sich über Felder und Häuser, Kriege werden geführt, Traktoren stoßen auf den Schlachtfeldern uniformierte Leichen in Gräben hinab, es donnert, es blitzt, es ist Tag, es ist Nacht, es dämmert am Morgen und am Abend — was auch immer geschieht, der befruchtende Strom von 43 Tonnen Sperma fließt pausenlos und das Gesetz der großen Zahlen garantiert, daß er ebenso beständig bleibt wie die Menge der auf die Erde fallenden Sonnenenergie. Das hat etwas Mechanisches, Unerschütterliches und Tierisches zugleich an sich. Man weiß nicht, wie man sich mit diesem Bild einer Menschheit abfinden soll, die so unerschütterlich kopuliert — inmitten aller Kataklysmen, die ihr begegnen und die sie sich selbst bereitet.
    Das ist es eben. Wollen Sie bitte verstehen, daß man den Inhalt eines Buches, das alle menschlichen Dinge bis auf die letzten Grenzen, nämlich auf bloße Zahlen komprimiert (wir kennen keine noch
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