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Eine Minute der Menschheit.

Eine Minute der Menschheit.

Titel: Eine Minute der Menschheit.
Autoren: Stanislaw Lem
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Undehnbarkeit unseres Begriffsvermögens an die Zahl wie an eine Mauer. Dies ist leicht zu erkennen, weil die Feststellung: »Gleichzeitig sterben neun-zehntausend Menschen« für uns einen nicht um ein Jota größeren Erlebniswert hat als die Information, daß neunhunderttausend sterben. Meinetwegen eine Million, zehn Millionen. Unsere Reaktion, immer die gleiche, kann nur ein etwas erschrockenes und unklar besorgtes »Ach« sein. Wir befinden uns schon im Vakuum abstrakter Begriffe, die etwas bedeuten, aber diese Bedeutung kann man nicht empfinden, fühlen, erleben, wie man etwa den Herzinfarkt des Onkels erlebt. Die Nachricht von diesem Infarkt wird uns mehr beeindrucken.
    Aber dieses Kapitel führt dich auf acht-undvierzig Seiten in das Sterben ein, wobei zuerst die Gesamtzahlen genannt werden, worauf die ins einzelne gehende Aufsplitterung folgt; es ist so, daß du zuerst den ganzen Bereich des Todes wie durch das schwache Objektiv eines Mikroskops sehen kannst, und dann einzelne Ausschnitte in immer größerer Annäherung, als würdest du immer stärkere Gläser benützen. Erst kommen gesondert die natürlichen Todesarten, dann, separat, die durch andere Menschen, Irrtümer, Schicksalsschläge usw. verursachten Todesfälle. Du erfährst, wie viele Menschen pro Minute unter Polizeifoltern umkommen und wie viele von der Hand von Tätern, die keine staatliche Ermächtigung dazu haben. Wie sich normalerweise die Anwendung der Folter auf die sechzig Sekunden verteilt und wie ihre geographische Streuung ist; welche Folterwerkzeuge in dieser Zeiteinheit verwendet werden, wieder aufgeteilt auf die einzelnen Erdteile und dann auf die einzelnen Staaten. Du erfährst also, daß, während du deinen Hund spazierenführst, die Hausschuhe suchst, mit deiner Frau redest, einschläfst, die Zeitung liest, eine tausendköpfige Menge anderer Menschen brüllt, sich in Todeszuckungen windet — und das in jeder aufeinanderfolgenden Minute aller vierundzwanzig Stunden jedes Tages, jeder Nacht, jeder Woche, jeden Monats und Jahres. Du wirst ihr Schreien nicht hören, aber du weißt schon, daß es ununterbrochen andauert -weil die Statistik es nachweist. Du wirst erfahren, wie viele Menschen pro Minute durch einen Irrtum sterben, weil sie statt eines harmlosen Getränks Gift geschluckt haben; und wieder — diese Statistik berücksichtigt alle Arten der Vergiftung, durch Herbizide, Säuren, Alkaloide; sie sagt uns auch, wie viele durch Irrtum verursachte Todesfälle auf Fehler von Autofahrern, Ärzten, Müttern, Krankenschwestern usw. entfallen. Wie viele Neugeborene — das ist schon eine andere Rubrik — von ihren Müttern gleich nach der Geburt, vorsätzlich oder aus Nachlässigkeit, getötet werden, denn es gibt Säuglinge, die mit einem Kissen erstickt wurden und andere, die in eine Latrine gefallen sind, weil die vor der Geburt Stehende einen Druck verspürte und glaubte, es sei der Stuhl, oder weil die Mutter unerfahren oder geistig zurückgeblieben war, oder auch im Moment, als die Geburt begann, unter dem Einfluß von Drogen stand; jede dieser Varianten wird dann weiter unterteilt. Auf der nächsten Seite ist von Neugeborenen die Rede, die ohne Fremdverschulden sterben, weil sie lebensunfähige Mißgeburten sind, oder im Mutterleib umkommen, weil der Mutterkuchen falsch gelagert war (Placenta praevia), weil die Nabelschnur sich um den Hals des Kindes geschlungen hat, weil die Gebärmutter geplatzt war — auch hier kann ich nicht alle aufzählen. Viel Platz nehmen die Selbstmörder ein. Es gibt heute viel mehr Methoden, sich das Leben zu nehmen, als in der Vergangenheit; der Strick zum Erhängen ist in der Statistik auf den sechsten Platz gerutscht. Übrigens ist in die Frequenz der Selbstmordmethoden Bewegung gekommen, seitdem als Bestseller Handbücher gehandelt werden, mit Instruktionen, wie man den Tod schnell und sicher herbeiführt, es sei denn, jemand wünscht sich einen langsamen Tod, denn es gibt auch solche Fälle. Du kannst, geduldiger Leser, sogar erfahren, in welchem Verhältnis die Auflagen dieses Handbuchs suizidaler Selbstbedienung zur normalen Höhe gelungener Selbstmorde stehen; früher, als man die Sache dilettantisch anpackte, konnten viel mehr Selbstmörder gerettet werden.
    Dann gibt es natürlich die Krebs- und Infarkttoten, die Opfer der medizinischen Kunst, den Tod an etwa vierhundert wichtigsten Krankheiten, ferner Schicksalsschläge wie Autounfälle, von umfallenden Bäumen, Mauern, herabfallenden
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