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Eine Minute der Menschheit.

Eine Minute der Menschheit.

Titel: Eine Minute der Menschheit.
Autoren: Stanislaw Lem
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frappierend, aber zugleich für unrealisierbar erklären ebenso wie das Telephonbuch von Paris oder New York sich nicht zum Lesen eignet und uns nichts über die Einwohner dieser Städte sagen kann.
    Gäbe es die »Eine Minute« nicht, wäre ich bestimmt der Ansicht, sie sei ebenso unleserlich wie ein Telephonbuch oder ein statistisches Jahrbuch.
    Diese Idee also — sechzig Sekunden aus dem Leben aller nebeneinander existierenden Menschen darzustellen — müßte wie der Plan eines großen Feldzugs ausgearbeitet werden. Das ursprüngliche Konzept, wenngleich wichtig, würde für den Erfolg nicht ausreichen. Nicht der ist ein besserer Stratege, der weiß, daß man den Gegner überrumpeln muß, um zu siegen, sondern der, der weiß, wie man das tut.
    Es ist unmöglich zu erfahren, was alles auf der Erde selbst im Laufe einer Sekunde vorgeht. Angesichts solcher Phänomene wird das mikroskopisch kleine Fassungsvermögen des menschlichen Bewußtseins offenbar, dieses keine Grenzen kennenden Geistes, dessen wir uns zu Recht rühmen und der uns von den Tieren unterscheidet, jenen geistigen Kümmerlingen, die nur ihre unmittelbare Umgebung wahrzunehmen vermögen. Wie traurig ist mein Hund jedesmal, wenn er sieht, daß ich die Koffer packe, und wie peinlich ist es mir, daß ich ihm nicht erklären kann, wie unnötig seine Niedergedrücktheit ist, sein jämmerliches Winseln, das mich bis zur Gartenpforte begleitet. Es gibt keine Möglichkeit, meinem Hund zu erklären, daß ich morgen wieder da bin. Jeden Abschied erlebt er auf dieselbe leidvolle Weise, mit uns Menschen hingegen verhält es sich angeblich ganz anders. Wir wissen, was ist, was sein kann, und was wir nicht wissen, können wir erfahren. Das ist die allgemeine Überzeugung. Indessen beweist uns die moderne Welt auf Schritt und Tritt, daß unser Bewußtsein eine sehr kurze Decke ist; man kann mit ihr ein ganz kleines Stückchen von etwas zudecken, aber nicht mehr, und die Probleme, die wir mit der Welt haben, sind viel schlimmer als die des Hundes, weil der Hund, dem die Fähigkeit zur Reflexion abgeht, nicht weiß, daß er etwas nicht weiß, und nicht versteht, daß er fast nichts versteht, wir dagegen wissen das eine und das andere. Wenn wir uns anders verhalten, dann geschieht das aus Dummheit oder aus Selbstbetrug, um uns den Seelenfrieden zu bewahren. Man kann Mitleid mit einem Menschen empfinden, eventuell mit vier — mit achthunderttausend kann man nicht mitfühlen. Die Zahlen, derer wir uns unter solchen Umständen bedienen, sind ausgeklügelte Prothesen, der Stock, mit dem der Blinde auf dem Gehsteig klopft, um nicht an eine Mauer zu stoßen, aber niemand wird doch behaupten, der Blinde sähe mit diesem Stock den ganzen Reichtum der Welt, selbst in diesem ihrem winzigen Ausschnitt einer einzigen Straße. Was also tun mit diesem unserem armen, undehnbaren Bewußtsein, damit es erfaßt, was es nicht erfassen kann? Was hätte man tun sollen, um auch nur eine Minute der ganzen Menschheit darzustellen?
    Du wirst, lieber Leser, nicht alles auf einmal erfahren; doch wenn du zuerst in das Inhaltsverzeichnis, geordnet nach einzelnen Bereichen, dann in die entsprechenden Rubriken hineinschaust, wirst du Dinge erfahren, die dir den Atem verschlagen. Nicht aus Bergen, Flüssen und Feldern gebildet, sondern aus Milliarden von Menschenleibern, wird in einer Momentaufnahme vor dir eine Landschaft erscheinen, wie eine gewöhnliche Landschaft in einer dunklen gewittrigen Nacht, wenn das Aufleuchten der Blitze die Dunkelheit zerreißt und du plötzlich, im Bruchteil einer Sekunde, einen ungeheuren, sich gegen alle Horizonte dehnenden Raum erblickst. Wieder bricht Dunkelheit ein, aber jenes Bild hat sich schon in dein Gedächtnis eingegraben, du wirst es nimmer los. Diesen Vergleich kann man in seinem visuellen Aspekt begreifen, denn wer hat nicht schon einmal ein nächtliches Gewitter erlebt, aber wie soll eine Welt, die wir in der Nacht durch das Aufleuchten eines Blitzes sehen, mit tausend statistischen Tabellen verglichen werden?
    Der Kunstgriff, dessen sich die Autoren bedient haben, ist einfach: die Methode der sukzessiven Approximation. Zu Demonstrationszwecken greifen wir zunächst aus den zweihundert Kapiteln eines heraus - über den Tod, eigentlich über das Sterben.
    Da die Menschheit fast fünf Milliarden Köpfe zählt, ist es verständlich, daß in jeder Minute Tausende Menschen sterben, das ist keine sensationelle Entdeckung. Hier stoßen wir aber mit der
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