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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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kurzgeschnittenem Haar auf einem Krankenhausbett saß. Ganz ähnlich hatte Agnes’ Mutter ihr die Haare geschnitten, als sie noch ein kleines Mädchen war: schnurgerade einmal rund um den Kopf, von der Stirn mit Gummiband eine Strähne zurückgenommen, die wie ein Wirbel abstand. Es waren noch andere Fotos in dem Buch, von Holzhäusern, die unter der Druckwelle wie Spielzeug zusammengeklappt waren, und von endlosen Trümmerfeldern, wie in Dresden oder London nach einem Krieg, der erst noch kommen würde.
    Agnes kaufte das Buch, steckte es in ihren Rucksack und setzte sich in ein Café, wo sie einen Cappuccino bestellte. Die Gäste um sich her vergessend, las sie an ihrem Tisch, daß am Morgen des sechsten Dezember 1917 das Versorgungsschiff Imo , aus Rotterdam kommend, im Hafen von Halifax mit einem französischen Munitionstransporter, der Mont Blanc, kollidierte, der explosive Pikrinsäure, Benzol und TNT für die europäische Kriegsfront geladen hatte. Der Zusammenstoß, der sich kurz vor halb neun Uhr morgens ereignete, sorgte für beträchtliche Aufregung in der Stadt, und das Feuer, das nach der Kollision ausbrach, trieb die Bürger von Halifax, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten, an die Fenster ihrer Häuser. Entsetzt und fasziniert von der gewaltigen Schönheit des Schauspiels blieben sie stehen und vergaßen das Frühstück, die Bügelwäsche und die Schule. Kanada war zwar Kriegsteilnehmer, aber Kampfhandlungen hatte es in Halifax nicht gegeben. Es war ein Versorgungs-Stützpunkt, von dem aus Soldaten und Kriegsmaterial nach Europa geschickt wurden. Da war ein Brand im Hafen eine kleine Sensation an einem sonst wahrscheinlich ereignislosen Tag.
    Als um fünf nach neun die Mont Blanc explodierte, zersprangen die Fenster in den Häusern beim Hafen, und Glassplitter trafen die Gesichter und Augen vieler Beobachter wie Geschosse. Bis zum Abend zählte man zweitausend Tote, neuntausend Verwundete und beinahe zweihundert teilweise oder vollständig Erblindete, viele von ihnen Kinder.
    Agnes hatte unter anderem deshalb begonnen, über die Explosion in Halifax zu schreiben, weil sie selbst Probleme mit den Augen hatte – an der Peripherie ihres Blickfelds stiegen des öfteren, wie ölige Blasen in einem Zylinder, merkwürdige Schlieren auf. Schon seit einigen Wochen wollte sie einen Augenarzt aufsuchen. Gesunde Augen waren das wichtigste. Ohne sie könnte sie ihren Beruf nicht ausüben. Seit siebzehn Jahren war sie Geschichtslehrerin und Trainerin des Mädchen-Hockeyteams an der Kidd Academy im Nordosten von Maine, die sie selbst früher besucht hatte.
    Agnes gefiel die Geschichte des College, das im Jahr 1921 von dem Textilfabrikanten James Kidd gegründet worden war. Er hatte mehrere der größeren Sommerhäuser auf den Küstenfelsen vor dem Dorf Fenton in Maine gekauft, um dort ein kleines Internat für außergewöhnlich begabte Schüler – von denen natürlich einer sein Sohn war – zu errichten. Nachdem Kidd in aller Stille die meisten der Zwanzig-Zimmer-Cottages von den Leuten erworben hatte, die seit Generationen zur Sommerfrische in das Küstendorf kamen (es aber immer schwieriger fanden, die riesigen Häuser ohne ein Heer von Dienstboten, wie es ihren Eltern noch zur Verfügung gestanden hatte, zu unterhalten), ließ er die Gebäude winterfest machen und als Unterrichtsräume und Schlafräume einrichten. Die alten Häuser mit den langen Korridoren und den vielen kleinen Zimmern eigneten sich als Wohnheime, und es erstaunte Agnes immer wieder, wie sehr dem College auch jetzt noch das Flair eines Feriendorfs anhaftete. An der Kidd Academy gab es keine gotischen Türmchen und keine weiten Rasenflächen. Die verwitterten Holzschindelbauten waren selten mehr als zwei oder drei Stockwerke hoch. Autos waren auf dem Schulgelände zwar nicht erlaubt, aber die Schüler schafften es trotzdem, sich welche zu halten, indem sie Garagen bei den Einheimischen mieteten.
    Nachdem Agnes fünf Jahre lang an öffentlichen Schulen unterrichtet hatte, die ihr so wenig paßten wie sie ihnen, war sie zu Beginn der 1980er Jahre als Lehrerin an die Kidd Academy gekommen. Sie war das, was die Leute im Halifax des Jahres 1917 vermutlich eine alte Jungfer genannt hätten. Ein scheußliches Wort, das sie am liebsten aus ihren Gedanken verbannt hätte, nicht nur weil es antiquiert und beleidigend war, sondern auch, weil man dabei sofort an blutleere Frauen undefinierbaren Alters dachte, wogegen Agnes, abgesehen von
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