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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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ausgeliehen.« Sie sah auf ihre Uhr, und Harrison dachte über die Idee nach, sich Kinder auszuleihen. »Erzähl mir etwas von dir«, sagte sie.
    »Da gibt’s nicht viel zu erzählen.«
    »Du bist verheiratet.«
    »Ja. Wir leben mit unseren zwei Söhnen Charlie und Tom in Toronto. Evelyn ist Fachanwältin für Erbrecht.«
    »Und was hat dich dorthin verschlagen? Nach Toronto?«
    »Evelyn stammt aus Toronto.«
    »Du bist – bei einem Verlag?«
    »Ja.«
    Nora wiegte sich auf ihrem Stuhl hin und her. »Erzähl mir etwas von deiner Frau?«
    »Hm, laß mich überlegen. Sie ist Frankokanadierin. Sie ist groß und hat kurze blonde Haare. Ich vermute, die Haare sind mittlerweile grau, aber sie läßt es keinen sehen. Sie ist eine sehr gute Mutter.«
    Flüchtig sah Harrison Evelyn und die Jungen vor sich. Er sah das Reihenhaus, in dem sie wohnten, die unordentliche kleine Küche. Ein Wäscheberg, darin die glitschig-glatten roten Hockeytrikots der Jungen, hatte sich aus der Nische für Waschmaschine und Trockner bis in die Küche vorgeschoben. Er sah den Frühstückstisch mit den amerikanischen Cornflakes, die die Jungen am liebsten aßen, und einem verschrumpelten Teebeutel auf einer Untertasse. Evelyn hatte den pinkfarbenen Kaschmirmorgenrock an, den er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, und ihre noch ungekämmten Haare standen ab. Im Hintergrund plätscherte das Gebabbel einer morgendlichen Nachrichtensendung. Als Harrison sich diese Szene vorstellte, wurde ihm bewußt, daß er sich nicht dorthin wünschte. Mit der Erkenntnis stellte sich ein Gefühl der Leere ein, das ihm nur allzu vertraut war, und das sich jedesmal gähnend auftat, wenn er an einem fremden Ort allein war – ein Gefühl zu treiben, der Verankerung beraubt zu sein, die durch die tägliche Arbeit, Hockeyspiele und Termine geschaffen wurde. »Charlie, der ältere, er ist jetzt elf, sieht aus wie Evelyn, aber im Wesen ist er wie ich«, erzählte Harrison, »und Tom, der Neunjährige, sieht mir zum Verwechseln ähnlich, hat aber Evelyns Naturell.« Er hielt inne. »Das ist manchmal ziemlich verwirrend«, fügte er lächelnd hinzu.
    »Und was für ein Naturell ist das?« fragte Nora.
    »Evelyns?«
    »Ja.«
    »Oh, ich denke mal, die meisten Leute würden sagen, sie hat einen etwas stärkeren Hang zum Theatralischen als ich.« Er kam sich eine Spur unloyal vor, als er das sagte.
    »Dann bist du also –«
    »– ausgeglichener«, sagte er.
    »Ja. Das ist sicher richtig«, sagte Nora.
    Bisweilen fühlte Harrison sich Evelyn um so näher, je weiter er rein körperlich von ihr entfernt war. Wenn sie getrennt waren, dachte er liebevoller an sie, als wenn er mit ihr zusammen war, und es hätte ihn interessiert, ob es ihr auch so ging. Manchmal glaubte er, daß er in der Ehe eine Enttäuschung für sie war – oder, besser gesagt, daß die Ehe mit ihrer Verheißung beständiger Liebe und Intimität für sie beide eine Enttäuschung war. In ihren theatralischsten und, paradoxerweise, gefühlvollsten Augenblicken warf Evelyn sich vor, Harrison nicht genug zu lieben; aber er konnte sie in dieser Hinsicht nicht beruhigen, ohne einzugestehen, daß es keine Hoffnung mehr gab. Gemeinsam kümmerten sie sich um die Jungen, gingen ihrer Arbeit nach und hatten, fand er, ein harmonisches Familienleben aufgebaut. Gelegentlich gab es Momente der Freude, wenn etwa einer der Jungen abends bei Tisch eine liebenswerte Bemerkung machte, die Harrison und Evelyn veranlaßte, einen Blick zu tauschen, oder wenn sie am Sonntag, nachdem sie sich im barmherzigen Zwielicht des frühen Morgens geliebt und eine Art wöchentlicher Hürde genommen hatten, zusammen im Bett lagen, Evelyn ihren Kopf auf seine Brust legte und er ihre Schulter streichelte und flüchtig glückliches Behagen sie umhüllte, bevor sie wieder einschliefen.
    »Erzähl mir eine Geschichte«, sagte Nora.
    Harrison lachte. »Das hast du früher auch immer gesagt.«
    »Stimmt.«
    Er versuchte, an nichts zu denken. Er setzte sich in einen Schaukelstuhl ihr gegenüber und ließ einige Sekunden verstreichen.
    »Ich habe einmal im Le Concorde in Quebec übernachtet«, sagte er. »Von meinem Zimmer aus schaute ich die Grande-Allée zum Château Frontenac hinunter. Zwischen meinem Hotel und dem Frontenac war ein Dutzend Dächer. Unterschiedlichster Form und Größe. Und auf einem dieser Dächer waren vier Jungs, Teenager. Sie hatten Besen bei sich, und zuerst dachte ich, sie wären von der Hausverwaltung aufs Dach geschickt
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