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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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hatte sich einzureden versucht, er habe Evelyns wegen nie teilgenommen. Sie war Kanadierin, hätte keinen gekannt, und die Reise hätte zu viele ihrer wertvollen freien Tage gekostet. Aber er hatte keine befriedigende Erklärung dafür, daß er nicht allein gefahren war. Die Antwort war wahrscheinlich schlicht und einfach: keine Lust. Der Anblick der Einladungen hatte bei ihm stets eine ängstliche Beklemmung erzeugt, der er lieber nicht auf den Grund gehen wollte. Selbst vor diesem kleinen Treffen – dieser hastig anberaumten Hochzeit – hatte er gezögert.
    »Du?« fragte er.
    Nora schüttelte ebenfalls den Kopf, und es wunderte ihn nicht. Carl Laski bei einem Kidd-Klassentreffen, unvorstellbar.
    »Hast du mal einen von den anderen wiedergesehen?« fragte Nora. »Später, meine ich.«
    »Na ja, Bill«, antwortete er. »Und vor ungefähr fünf Jahren habe ich Jerry mal zufällig in New York getroffen. Wir haben was zusammen getrunken.«
    »Er kommt mit seiner Frau«, sagte Nora. »Wie war das Wiedersehen mit ihm?«
    »Hauptsächlich ging es ihm darum, mir zu zeigen, wie erfolgreich er war«, erwiderte Harrison und zuckte mit den Schultern, um der unfreundlichen Bemerkung den Stachel zu nehmen.
    »Du bleibst bis Sonntag?« fragte Nora.
    »Ich glaube, so ist es vorgesehen.«
    Harrison war von Toronto nach Hartford geflogen, hatte einen Wagen gemietet und die Massachusetts Turnpike nach Westen genommen. Auf der Fahrt war ihm eingefallen, daß er noch nie in West-Massachusetts gewesen war. Bei früheren Besuchen in Neuengland war er jedesmal in Boston gewesen und dann direkt zur Kidd Academy in Maine weitergefahren. Niemals tiefer hinein ins Land. Natürlich waren ihm die Berkshires ein Begriff. Tanglewood, im Sommer Spielstätte des Boston Symphony Orchestra, war weltbekannt. Edith Wharton war regelmäßig zur Sommerfrische nach Lenox gekommen. Melville hatte in Pittsfield Moby Dick geschrieben.
    »Man kann hier schöne Wanderungen machen«, bemerkte Nora mit einer Handbewegung zu den Fenstern. »Das Wetter – es ist unglaublich.«
    »Ja, in Toronto war es auch ungewöhnlich mild für die Jahreszeit.«
    »Ein Tag ist schöner als der andere«, sagte sie. »Als wollte die Natur sich über uns lustig machen.«
    »Inwiefern?«
    »Der elfte September.«
    Harrison nickte langsam.
    »Dieser Horror. Dieser furchtbare Schmerz.« Sie hielt inne. »Auf der Straße nicken einem die Leute zu und sagen: Ist das zu fassen? Und: So etwas hat es seit Jahren nicht mehr gegeben. Und: Genießen wir es, solange wir können. «
    »Es heißt, die Temperaturen brechen alle Rekorde.«
    »Ich glaube, wir bekommen heute zweiundzwanzig Grad«, sagte sie.
    »Das ist für die erste Dezemberwoche doch bestimmt ein Rekord.«
    »Heißt das – heißt das, daß die Sünden des Menschen, die in ihrer Schrecklichkeit jedes Vorstellungsvermögen übersteigen, nichts sind vor der Verschwendungsfreude und der Gelassenheit der Natur?« sagte Nora.
    »Die Natur als das Höchste?« fragte Harrison.
    »Als reales Wesen?«
    »Das sehr grausam sein kann.«
    »Aber nicht heute.«
    »Nein, heute nicht«, stimmte Harrison zu.
    »Oder – oder sollen wir daran erinnert werden, daß es einen Grund zu leben gibt? Daß wir jeden Tag auskosten sollten, als wäre es unser letzter?«
    »Die gnädige Mutter Natur?« sagte Harrison. »Das gefällt mir.«
    Nora lachte. Sie beugte sich vor und tippte ihm leicht aufs Knie. »Wenn uns jemand hört!« sagte sie. »So was Hochgestochenes! So haben wir bei Mr. Mitchell im Unterricht immer geschwafelt, weißt du noch?«
    »Stimmt«, bestätigte er, erfreut, daß sie sich erinnerte, und erfreuter noch über die unerwartete Berührung.
    »Es ist so schön, dich zu sehen«, sagte sie mit einer Freude, die echt schien.
    »Wo warst du, als es passierte?« fragte er.
    »Hier. In der Küche. Ich habe den Fernseher eingeschaltet, kurz bevor die zweite Maschine einschlug. Judy, meine Assistentin – du wirst sie noch kennenlernen –, kam herein und sagte es mir. Und du?«
    »Ich war in Toronto«, sagte er. »Ich war beim Frühstück. Mit einer Tasse Kaffee und der Zeitung. Der Fernseher lief, plötzlich überschlug sich die Stimme des Sprechers, und als ich hinschaute, sah ich, wie ein Flugzeug in den zweiten Turm hineinflog.«
    Die Bilder dieses Tages waren über Stunden immer wieder gezeigt worden. Beim kanadischen Fernsehen hatte man weniger Skrupel gehabt als bei den amerikanischen Sendern, auch die grauenvollsten Bilder zu
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