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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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worden, um den Schnee hinunterzufegen. Aber dann erkannte ich, daß sie eine Eishockeybahn auslegen wollten. Es war eine erschreckende Vorstellung; es gab da oben kein Geländer und keine Mauer. Wenn einer der Jungen einen anderen checkte, ach was, wenn er nur stolperte, würde er einfach vom Dach rutschen. Direkt in den Tod wahrscheinlich. Das Haus war mindestens sieben Stockwerke hoch.«
    Nora neigte den Kopf und wartete.
    »Ich konnte sie nicht aus den Augen lassen«, fuhr Harrison fort. »Aber ich habe nichts unternommen. Ich wußte nicht, wie das Gebäude hieß, und ich dachte, wenn ich auf die Straße hinausliefe, könnte ich nicht mehr erkennen, welches Dach es war. Also habe ich nichts getan.«
    »Und was ist passiert?«
    »Nichts.«
    Nora stützte ihr Kinn auf den Handrücken. »Weiter.«
    Harrison überlegte einen Moment. »Bevor ich zu Hause weggefahren bin, um herzukommen, habe ich meiner Frau zugesehen, wie sie sich zur Arbeit angezogen hat. Sie trug zwei verschiedene Socken. Die eine lang, die andere kurz. Sie hatte sich die Beine nicht rasiert.«
    »Das hat dich gestört?«
    »Ja, ein kleines bißchen abgestoßen«, bekannte er. »Ich liebe übrigens meine Frau.«
    »Aber siehst du, diese Fakten hast du nicht erwähnt«, sagte Nora. »Du hast zensiert. Du hättest diese Einzelheiten ausgelassen. Wenn dich jemand gebeten hätte, von dir zu erzählen. Und dann hätte ich – hätte ich ein ganz anderes Bild von dir bekommen.«
    »Wieso?«
    »Ich weiß jetzt, daß du nichts dagegen hast, kleine Geheimnisse zu teilen. Du bist vielleicht ein versteckter Feigling. Du bist wahrscheinlich jemand, der sich lieber heraushält. Du kannst dich von jemandem, den du liebst, abgestoßen fühlen.«
    »Wußtest du das nicht alles schon?«
    »Damals waren wir Kinder«, sagte Nora. »Heute – heute sind wir ganz anders.«
    Wirklich? fragte sich Harrison.
    »Was ist das da drüben?« fragte er, den Arm ausstreckend. »Diese Rauchwolke. Die sieht böse aus.«
    »Eine Papiertütenfabrik. Sie behaupten, der Rauch sei völlig harmlos. Aber ich glaube es nicht.«
    »Der Wald ist beeindruckend«, sagte er.
    »Das täuscht. Von hier aus siehst du nur die Baumwipfel. Darunter sind Häuser, Straßen und Stromkabel. Sogar ein McDonald’s.«
    »Sag, daß das nicht wahr ist«, flehte Harrison mit gespieltem Entsetzen.
    »Doch, es ist leider wahr. Aber hinter dem Gasthof ist ein richtiger Wald.«
    Er reckte den Hals, aber das Dach versperrte den Blick auf den Wald hinter dem Haus. »Läuft der Gasthof gut?«
    »Erstaunlicherweise, ja. Genau wie ich es mir erhofft hatte. Es gibt – es gibt natürlich immer Probleme, am häufigsten beschweren sich die Gäste darüber, daß die Toilettensitze zu niedrig seien.«
    »Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.«
    »Aber viele Gäste sind wiedergekommen. Und sie haben ihren Freunden von uns erzählt. Dieses Jahr sind wir bis Ende Februar ausgebucht.«
    »Bravo!«
    »Ich wollte niemandem den Rang streitig machen. Konkurrenzkampf liegt mir nicht. Ich wollte nur etwas Eigenes. Aber jetzt stehe ich mit sämtlichen Pensionen und Gasthäusern in den Berkshires in Konkurrenz.«
    »Was für Leute kommen denn zu dir?«
    »Meine Gäste kommen hauptsächlich aus Boston und New York. Leute, die raus wollen aus der Stadt. Sie kommen angeblich wegen des Charmes – dieses besonderen Neuengland-Charmes, den ich kitschig finde und deshalb nicht anbiete. Bis auf die L.L.-Bean-Schaukelstühle, in denen wir hier sitzen. Oder sie kommen mit einer Idealvorstellung von heiler Familie, die im Lauf des Wochenendes unweigerlich zusammenbricht.«
    »Das hört sich etwas zynisch an.«
    »In Wirklichkeit lockt sie die Verheißung von Sex, gutem Essen und Konsum. Muß nicht unbedingt in dieser Reihenfolge sein. Wird alles geboten, keine zehn Minuten entfernt.«
    »Unter den vielen Bäumen.«
    Nora nickte.
    »Mir wird hier richtig warm«, sagte Harrison leicht erstaunt.
    »Zieh doch deinen Pulli aus.«
    »Mach ich gleich. Wenn wir sogenannte Primitive wären, würde uns das angst machen, nicht? Dieses verrückte Wetter.«
    »Der Gasthof ist letztes Jahr im New York Magazine besprochen worden«, erzählte Nora. »Der Kritiker schrieb, man könne im Dezember auf der Veranda sitzen. Er meinte, im Wintermantel, aber dieses Jahr geht’s in Hemdsärmeln. Die Sonne heizt die Holzschindeln richtig auf.«
    »Der Rasen ist noch grün«, sagte er.
    »Normalerweise liegt um diese Jahreszeit Schnee. Männer, die jahrelang nicht mehr
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