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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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gerodelt sind, lassen sich dazu hinreißen, vor ihren Frauen und Kindern anzugeben, bis ihre Knie nicht mehr mitmachen.« Sie sah wieder auf ihre Uhr. »Ich muß los.« Sie stand auf. »Ich habe eine Art Probemittagessen. Morgen findet hier noch eine Hochzeitsfeier statt. Agnes und Rob müßten bis eins hier sein. Wir haben heute abend zum Essen einen eigenen Raum. Und morgen abend natürlich auch.«
    »Ist das normal?« fragte Harrison. »Mehr als eine Hochzeit an einem Wochenende?«
    »O ja«, sagte Nora. »Ich habe schon vier an einem Wochenende gehabt, alle mit Generalprobe. Man muß nur verhindern, daß die Bräute sich in die Arme laufen. Jede Braut möchte einmalig sein.«
    »Geht uns das nicht allen so?«
    Nora lächelte.
    »Ich glaube, ich mache einen Spaziergang.« Er stand ebenfalls auf. »Ich habe unterwegs schon gefrühstückt.«
    »Gut. Du hast alles, was du brauchst?«
    »Ja.«
    Nora trat einen Schritt von ihm weg, drehte dann aber noch einmal den Kopf. »Irgend jemand kommt sicher auf Stephen zu sprechen«, sagte sie.
    Der Name erzeugte bei Harrison wie immer eine starke innere Spannung und dunkles Schamgefühl. Er blieb stehen und wartete.
    »Ich denke viel an ihn«, fügte Nora hinzu.
    Harrison schwieg.
    »Erinnerst du dich an die Beerdigung?«
    »Natürlich«, sagte er leise.
    »So nah erlebter Schmerz ist schwer erträglich. Er war viel schlimmer als unserer. Viel intensiver. Mich hat er erkennen lassen, wie seicht unsere Liebe zu ihm war.«
    »Vielleicht«, sagte Harrison, obwohl er damals seine Liebe zu dem Freund als sehr tief empfunden hatte.
    »Du und ich, wir haben seit der Party nicht mehr miteinander gesprochen«, sagte Nora.
    »Nein.«
    Nora betrachtete ihn einen Moment, und er spürte, wie sie ihn musterte.
    »Ich frage mich, ob es nicht ein Fehler war, daß ich zugestimmt habe, die Hochzeit hier auszurichten«, sagte sie. »Dich herkommen zu lassen, das ist ein bißchen so, als stocherte man in einem klaren Teich herum und sähe zu, wie der Schlamm aufsteigt.«
    »War der Teich denn so klar, bevor ich kam?« fragte er.
    »Ja«, antwortete Nora. »Ja, ich denke schon.«
    Sie wandte sich ab, und Harrison sah ihr nach, als sie auf dem schmalen Kiesweg davonging, der ums Haus herum nach vorn führte. Sie ging schnell, mit gesenktem Kopf, aber sie wußte sicherlich, daß er ihr nachschaute. Er erinnerte sich plötzlich mit aller Lebhaftigkeit an Nora, wie sie gewesen war, als er sie damals eine Seitenstraße in Maine hatte hinuntergehen sehen. Er hatte nie vergessen, wo und wann er ihr das erste Mal begegnet war, aber gesehen , so wie jetzt, hatte er sie seit Jahren nicht mehr. Die Schärfe des Bildes nahm ihm den Atem, und als er seinen Pullover vom Schaukelstuhl nahm, ging ihm der Gedanke durch den Kopf, daß im Lauf des kommenden Wochenendes vielleicht noch mehr Bilder dieser Art auftauchen würden. Die Hände in die Hüften gestemmt, blieb er kurz stehen und bewunderte die spektakuläre Aussicht, während er sich innerlich wappnete.
    Agnes schrieb über die Explosion in Halifax. Sie hatte das erste Mal von dem Unglück gehört, als sie zu Beginn des vergangenen Sommers zu einem kurzen Urlaub in Nova Scotia gewesen war. Die Reise war vom lokalen Radiosender in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Geschichte an der Kidd Academy ausgerichtet worden. Anfang Juni in Halifax, das hatte sich gut angehört, aber wie das mit College-Exkursionen nun mal so ist, war die Sache eher eine Last gewesen – unerwartet mühsam, wozu auch noch das triste Wetter beigetragen hatte, ständiger Regen, und sie hatte so kalte Hände und Füße gehabt, daß sie sie jeden Abend in ihrem Hotelzimmer mit dem Fön wärmen mußte. Es waren mehrere Unternehmungen geplant – Ausflüge in die Umgebung, Museumsbesuche und dergleichen –, aber Agnes fühlte sich am wohlsten, wenn sie für sich allein war. Morgens absolvierte sie ihren gewohnten Fünf-Kilometer-Lauf, duschte, frühstückte, und wenn keine verlockenden Ausflüge anstanden, bummelte sie einfach durch die Stadt und genoß ihre zeitweilige Freiheit.
    Bei einem dieser Bummel blieb sie vor einer Buchhandlung stehen und sah im Fenster ein Buch mit dem Titel A Flash Brighter than the Sun: The Halifax Explosion . Interessiert ging Agnes hinein, bat um das Buch und blätterte es durch, sah sich die Fotos der Stadt unmittelbar nach der Explosion sehr genau an. Besonders lebhaft war ihr das Bild eines Kindes in Erinnerung geblieben, das mit verbundenen Augen und
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