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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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hineinraste. Die Frau war für Agnes zu einer realen Person mit einem komplizierten Leben geworden, und immer wenn jemand die Katastrophe erwähnte, regte sich bei Agnes etwas wie eine liebevolle Erinnerung an die Frau und ihre Tochter.
Innes Finch klopfte. Die Tür wurde ihm von einer Frau mit einem Strang roter Wolle in den Händen geöffnet. Mrs. Fraser gehörte das Haus, das Ziel seiner Reise gewesen war und wo er vereinbarungsgemäß mehrere Monate bleiben wollte. Sie schien überrascht, Innes zu sehen, obwohl er geschrieben hatte, daß er vor sechzehn Uhr eintreffen würde. Vielleicht war sein Aussehen daran schuld – müde, vom Wind zerzaust und keineswegs einnehmend –, daß sie zögerte.
»Treten Sie ein«, forderte sie ihn dann jedoch energisch auf, um den kühlen Empfang vergessen zu machen. Innes trat mit feuchten Schuhen über die Schwelle auf einen gefliesten Boden. Er behielt den Koffer in der Hand, das Schmieröl daran war ihm jetzt etwas peinlich. Er hätte es im Hafen abwischen können. Er hätte einem Steward befehlen können, es für ihn zu tun. Allerdings hatte er noch nie gut Befehle geben können.
»Ich bin Mrs. Fraser«, erklärte sie überflüssigerweise, die Hände in der Wolle.
Hinter dem Strang Wolle war ein strammer Busen, der sich bei Berührung vermutlich hart anfühlte. Mrs. Fraser sah aus wie fünfundfünfzig, aber vielleicht war sie auch erst fünfzig und hatte das Pech, älter auszusehen. Ihr Haar war so streng gebändigt wie ihr Körper, doch ihr Gesicht verzog sich ganz unerwartet zu einem nervösen Lächeln. Innes fragte sich, weshalb sie nervös sein sollte. Ihr Auftreten war imposant.
»Mein Mann kommt erst um sechs nach Hause«, sagte sie. »Er ist noch im Krankenhaus. Komplikationen bei einer Operation. Sind Sie hungrig? Möchten Sie ein Bad nehmen? Stellen Sie den Koffer an die Tür, dann lasse ich ihn in Ihr Zimmer hinaufbringen.«
Innes hatte noch kein Wort gesprochen.
Ein Mann näherte sich, schleppend und etwas mißgelaunt. Er trug Jackett und Krawatte, trotzdem hätte man ihn nicht für etwas anderes als einen Dienstboten halten können. Er nahm den Koffer, legte die Hand aufs Geländer und stieg mit schweren Schritten, jeder ein unberechtigter kleiner Vorwurf, die Treppe hinauf.
Innes zog seine Handschuhe aus und legte sie auf den Tisch.
»Die Garderobe ist in der Ecke«, sagte Mrs. Fraser.
»Kann ich Ihnen dabei vielleicht helfen?« fragte Innes und streckte die Arme zu dem verdrehten Strang Wolle aus.
Mrs. Fraser legte den Strang über die Rückenlehne eines Mahagonistuhls. »Kommen Sie lieber mit«, sagte sie. »Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer. Sie wünschen sich jetzt sicher eine heiße Schokolade und ein Bad.«
    Agnes war überzeugt, daß Innes Finch sich in diesem Moment noch viel mehr wünschte als heiße Schokolade und ein Bad: interessante Arbeit und unkomplizierte Liebe; Spannung und Abenteuer; außergewöhnliche Schönheit.
    Was ihr Aussehen betraf, fühlte Agnes sich nicht gerade von der Natur verwöhnt. Wind und Wetter hatten im Lauf von mehreren hundert Hockeypartien und Trainingsspielen, die sie von der Seitenlinie aus geleitet hatte, und von fast dreißig Jahren an der Küste Maines ihr Gesicht vorzeitig faltig gemacht. Ihr Körper war kräftig, aber nicht elegant. Sie maß nur einen Meter sechzig, das galt heutzutage als klein (die Mädchen ihrer Mannschaft überragten sie deutlich). Sie hatte hellbraunes Haar, das sie sehr kurz geschnitten trug und das sich in letzter Zeit bei Feuchtigkeit kräuselte, was sie lästig fand. Aber sie hatte sehr schöne Augen – tiefliegend und von einem dunklen Braun –, das einzige, wofür ihr regelmäßig Komplimente gemacht wurden. Zu Beginn ihrer Tätigkeit als Lehrerin hatte sie zum Unterricht stets Wollröcke und sportliche Oxfordblusen getragen. Heute, da die Kleiderordnung nicht mehr so streng war, bevorzugte sie Chinos und Polohemden. Sie war stolz darauf, noch eine Taille zu haben.
    Von ihren siebzehn Jahren an der Kidd Academy hatte Agnes zwölf auf dem Schulgelände gelebt. Einige der Lehrer wohnten am Strand in kleinen Cottages, die allgemein »Hütten« genannt wurden, die meisten jedoch in Apartments in den Internatshäusern. Nach mehr als zehn Jahren Dienst als Hausmutter lebte Agnes jetzt in einer Wohnung, die ihr von der Schule gegen eine monatliche Mietzahlung zur Verfügung gestellt wurde, bis sie in den Ruhestand treten würde.
    Agnes war sicher, daß sie sich in der Wohnung, die man von einem
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