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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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nicht vorstellen. Sie war früher mehrmals dort gewesen, aber nur in der Zeit, als Carl Laski noch gelebt hatte, und ein letztes Mal zu seiner Beerdigung. Sie hatte es als einfach und dunkel in Erinnerung, mit einer düsteren Küche und einem Labyrinth kleiner Zimmer. Das Zimmer, in dem sie geschlafen hatte, wurde nie richtig warm, und auf dem Bett lag ein Patchwork-Überwurf aus Samt und Seide, den Nora auf einem Flohmarkt erstanden hatte. Er war an den Nähten an einigen Stellen ausgerissen, aber er war wunderschön anzusehen, eine ganz erstaunliche Arbeit. Agnes hoffte, daß Nora die Decke noch besaß. Sie hatte in ausführlichen Briefen in Noras akkurater und steiler Handschrift nicht nur alles über die Renovierungsarbeiten und die unvorstellbaren Kosten erfahren, sondern auch von Noras Zuversicht gelesen, daß der Gasthof schon bald einen kleinen Gewinn abwerfen würde. Das Geld, das Carl Laski seiner Frau hinterlassen hatte, war verbraucht, aber Noras letzter Brief hatte zuversichtlich geklungen. Der Gasthof war bis Ende Februar ausgebucht. Nora beschwerte sich darüber, daß sie Briefe schreiben mußte und Agnes nicht per E-Mail erreichen konnte, aber Agnes glaubte, daß Nora der Briefwechsel insgeheim gefiel, das Schreiben der Briefe ebenso wie der Empfang.
    Agnes fuhr eine, wie ihr schien, lange Strecke und hielt schließlich an einer Raststätte. Sie parkte den Wagen, nahm ihren Rucksack heraus und betrat das Gebäude. Nach einem Abstecher zur Toilette holte sie sich einen Kaffee und einen Doughnut und suchte sich dann einen Tisch. Als sie den Doughnut gegessen hatte, wischte sie sich die Hände an einer Papierserviette ab und kramte in ihrem Rucksack. Sie holte ihr Notizheft und einen Stift heraus.
    Das Schreiben war ihr Geheimnis. Nicht einmal Jim hatte sie davon erzählt. Vielleicht würde sie ihm die Geschichte eines Tages schicken, wenn sie fertig war.
Mrs. Fraser blieb einen Moment an der Tür des Zimmers stehen, das sie Innes gegeben hatte, als wollte sie sich seine Züge und seine Gestalt einprägen, als könnte der Mann so plötzlich wieder verschwinden, wie er gekommen war. Mrs. Fraser hatte zwei Töchter, und junge Männer von ansehnlicher Erscheinung riefen bei ihr in doppelter Hinsicht ein Gefühl der Bedrängnis hervor: Ihre Töchter hatten noch keine Ehemänner, und die Frasers hatten sich vergeblich Söhne gewünscht. Sie sagte, Abendessen gebe es um acht. An Innes’ Universität hatten sich die Studenten zum Abendessen umgezogen und waren, von einem Hauch Formaldehyd umweht, zu Tisch gekommen. Zu Hause, bei seinen Eltern, hatten sie sich nur sonntags zum Essen umgezogen. Der Ort, an dem man statt Abendessen »Abendbrot« sagte, schien sehr weit weg, die Distanz noch größer, als fünf Jahre Medizinstudium und ein Krieg tatsächlich geschaffen hatten.
Sein Bruder Martin war in Frankreich;er selbst war in Halifax. Bei der militärischen Musterung war er wegen seiner Fußfehlform und seines Asthmas durchgefallen. Das Asthma war in den Monaten danach auf unerklärliche Weise verschwunden, und er dachte oft daran, sich noch einmal zu melden. Es hieß, die Füße spielten beim Militär keine Rolle mehr. Aber seine Professoren hatten behauptet, er könne seinem Land besser dienen, wenn er seine Ausbildung als Chirurg fortsetzte. Die Augen vieler Soldaten würden durch Splitter verletzt. Er könne vielleicht das Augenlicht eines Menschen retten. Wenn nach Beendigung seines Studiums immer noch Krieg sei ( was wir, um Gottes willen, nicht hoffen wollen ), könne Innes ja nach Übersee gehen und helfen.
Innes war siebenundzwanzig und hatte spät zu seiner Berufung gefunden.
Er berührte einen kleinen Fleck auf der Marmorplatte einer Frisierkommode und fragte sich, wessen Zimmer er beschlagnahmt hatte. Der Spiegel über der Kommode ließ sich im Rahmen verstellen, und Innes richtete ihn so, daß er sich betrachten konnte. Seine Haut war blaß vom jahrelangen Studium, sein Haar war dunkel. Er hatte Augen in einem Preußischblau, das in einem so wenig bemerkenswerten Gesicht fehl am Platz schien. Wenn man ihn ansah, fühlte man sich an das Meer im Winter erinnert. Das Land hatte alle Farbe verloren, aber das Blau des Wassers war intensiv wie im Juli.
Er stellte seine Bücher auf die Marmorplatte der Frisierkommode. Sie enthielten all die Texte, die er hatte lernen müssen. Er strich mit der Hand über das genarbte Leder. Die Bücher waren solide gebunden. Tausendmal waren sie aufgeschlagen worden,
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