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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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diesem neuen Problem mit den Augen, kerngesund war, in ausgezeichneter körperlicher Verfassung und ein präzises Alter hatte. Sie war vierundvierzig Jahre.
    Wenn Agnes über die Explosion von Halifax nachdachte, stellte sie sich einen Mann namens Innes Finch vor, einen jungen Chirurgen, der an der Medizinischen Fakultät der Universität Maine in Bowdoin seine Ausbildung erhalten hatte und am Nachmittag des fünften Dezember 1917 in Halifax eintraf. Bisher hatte Agnes geschrieben:
Innes stand auf einer Straße in Richmond, einem Stadtviertel von Halifax, und sah zu, wie die Sonne hinter einer Schicht olivfarbener Wolken versank. Das Licht, das sich die Straße hinunter auf den jungen Mann zu bewegte, erleuchtete zuerst ein Holzhaus an der gegenüberliegenden Ecke, dann eine Kutsche mit zwei Zugpferden und schließlich eine Frau, die auf dem von Asche bedeckten Trottoir mit einem Kinderwagen kämpfte. Vor dem Glanz der nassen Straße mußte Innes die Lider zusammenkneifen. Er stellte den Pappkoffer ab, der von der Reise im Frachtraum der Fähre verbeult und mit etwas wie Wagenschmiere befleckt war, und verdeckte mit einer Hand die Sonne. Er war sich einer unirdischen Klarheit von Licht und Farbe bewußt. Die Frau mit dem Kinderwagen schaute nach oben. Ein Mann in Marineuniform – ein Mann, der auf hoher See bestimmt schon zahllose optische Phänomene beobachtet hatte – drehte den Kopf, um zurückzublicken. Hinter einem Fenster neben Innes fing eine hölzerne Kamineinfassung Feuer, das Gitter bildete ein Muster von Rechtecken auf einer rosafarbenen Wand.
Innes entschied, daß das klare Licht kein Omen sei, und nahm seinen fleckigen Koffer wieder auf. Solche Erscheinungen waren einfach physikalische Tatsachen – sie hatten mit Lichtstärke und Einfallswinkeln zu tun, mit Wellenlängen und Emission.
    Agnes wußte nicht, ob es zu jener Zeit in Halifax einen Innes Finch gegeben hatte. Es wäre ein unglaublicher Zufall, aber möglich war es vermutlich. Es war schon Erstaunlicheres vorgekommen. Vielleicht hatte es auch nur einen Ian Finch oder Innes Findlay gegeben. Aber ihr Innes war inzwischen so real für sie geworden, daß seine Geschichte sich ihr aufdrängte, wenn sie über die Katastrophe nachdachte. Das war ein Muster, wenn nicht gar eine Gewohnheit, die Agnes bekannt war. Sie hatte im Lauf der Jahre lernen müssen, ihren Schülern Weltgeschehen nahezubringen, und sie ertappte sich oft dabei, daß sie die Methode auch bei sich selbst anwendete. Immer wenn sie von einem Ereignis hörte, das zu entsetzlich war, um verstanden zu werden, begann sie, um sich besser einfühlen zu können – nicht ganz unbewußt und nicht ohne eine gewisse Willensanstrengung –, sich eine von dem Unglück betroffene Person vorzustellen. So hatte sie es auch gemacht, als sie im vergangenen Frühjahr im Rückspiegel ihres Autos beobachtet hatte, wie eine Frau die Herrschaft über ihren Wagen verlor, der Volvo war zunächst heftig ins Schleudern geraten und hatte sich dann, immer weiter zurückbleibend, mehrmals überschlagen. Sie dachte auch jetzt noch von Zeit zu Zeit an das verwirrte Gesicht der Frau, das sie höchstens eine Sekunde gesehen hatte, und machte sich Gedanken über ihr Leben, wie es gewesen sein mochte. Sie sah auch jetzt noch die Küche der Frau vor sich – eine Theke aus Granit, an der ihr Sohn, fünfzehn vielleicht, saß und Weizenkräcker mit Cheddar-Käse aß. Sein Rucksack lag neben einem Stuhl auf dem Boden, und vor sich hatte er ein leeres Milchglas und ein aufgeschlagenes Algebra-Buch. Agnes stellte sich vor, daß der Junge wartete, zunächst unbesorgt, dann leicht beunruhigt, bis es sechs, dann sieben wurde und endlich sein Vater erschien – auch der zuerst verwundert und dann beunruhigt. Was war seiner Frau zugestoßen, der Mutter des Jungen, die in diesem Augenblick in einem Krankenhaus in Maine lag und, so hatte es Agnes beschlossen, den grauenhaften Unfall überleben würde?
    Agnes hatte es auch nach der Zerstörung des World Trade Center im September so gemacht. Tagelang war sie in einer Art ungläubiger Benommenheit herumgelaufen, bis sie zufällig in der New York Times von einer jungen Hispano-Amerikanerin las, die im 102. Stockwerk des North Tower ums Leben gekommen war. Agnes hatte die Zeitung noch nicht aus der Hand gelegt, da begann schon ein Leben sich rückwärts abzuspulen, das sein Ende gefunden hatte, als die Frau nach der Kaffeemaschine griff und das zweite Flugzeug in das Gebäude
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