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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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der größeren Häuser abgetrennt hatte, bis zu ihrem Rückzug aus dem Berufsleben sehr wohl fühlen würde. Es war eine Eckwohnung mit einem zweistöckigen Turm. Im ersten Stockwerk hatte sie eine Küche und ein Wohnzimmer, im Turm mit seinen vielen Fenstern stand ein großer runder Tisch, von einer ledernen Polsterbank umgeben. Sie lebte praktisch an diesem Tisch; sie aß dort, korrigierte Hefte und Klassenarbeiten, entwarf Spielaufstellungen und Übungspläne für ihre Hockeyteams. In der zweiten Etage war ein großes Bad, und im Turm stand ihr Bett, so ausgerichtet, daß sie das Meer betrachten konnte, eine Beschäftigung, die einen unverhältnismäßig großen Teil ihrer Zeit einnahm. Sie hatte außerdem vor dem Schlafzimmer einen kleinen Balkon, auf dem sie sich bei einem Cappuccino aus der teuren Maschine, die ihre Schwester aus New York ihr geschenkt hatte, der gleichen Beschäftigung hingeben konnte.
    Fast alle Wohnungen auf dem Gelände hatten einen Blick – auf die Brandung, den Kiesstrand, die Felsenküste. Das Land war nicht verbaut worden, es gab nur Strandwildnis und kleine Pfade zwischen den Gebäuden, und obwohl die Lage hoch oben auf dem Felsen über dem Meer etwas Großartiges hatte, war das College eher gemütlich als beeindruckend. Im Winter pfiff ein durchdringender Wind. Ganze Monate konnten vergehen, ohne daß Agnes ein Fenster öffnete, weil sie fürchtete, der Wind würde ihre Pflanzen umreißen. Aus einem ehemaligen Golfplatz waren mehrere Sportplätze gemacht worden, genau in der Mitte stand die Sporthalle. Vom Trainingsgelände ihrer Mannschaft aus konnte Agnes nicht nur das Meer sehen, sondern auch die wilden Hortensien, die rund um das Haus des Direktors wuchsen. Die meisten Schüler achteten bald nicht mehr auf ihre aufregende Umgebung, aber es kam doch vor, daß Agnes einen von ihnen auf den Felsen sitzen und aufs Meer hinausschauen sah. Obwohl zahlreiche Schilder und Hinweistafeln es verboten, ruderten die jungen Leute manchmal zur Insel Pepperell hinaus, um zu trinken und zu feiern, und dann versuchte unweigerlich einer, die schmale Wendeltreppe in dem verlassenen Leuchtturm hinaufzusteigen. Sie schafften es stets bis ganz nach oben und bekamen weiche Knie, wenn sie beim Abstieg sahen, daß es kein Geländer gab, an dem man sich festhalten konnte, und daß sie schon beim kleinsten Fehltritt in den dunklen Schacht des Turms hinunterstürzen würden. Wunderbarerweise war so etwas noch nie passiert.
    Agnes liebte das Land rund um die Schule, die zimtfarbenen Strandpflaumen, die sich mit den fuchsienfarbenen Rosen mischten, einer robusten Sorte, die selbst die Winter an der Nordküste Neuenglands überstand und immer im Juni und dann wieder in den ersten Septemberwochen Blüten trug. Sie wünschte, sie würde sich mit Vögeln auskennen, Fenton war für Vogelbeobachter ein wahres Paradies. Sie gehörten hierher wie die Goldrute und die herbe saubere Luft. Es war bekannt, daß viele Leute aus Fenton – die wahren Einheimischen, hundertachtundvierzig an der Zahl – weit über neunzig Jahre alt wurden, eine Tatsache, die nach Agnes’ Meinung nicht allein den Erbanlagen zugeschrieben werden konnte. Blumen, die in Wasser aus Fenton standen, blieben wochenlang frisch. (Agnes, die das örtliche Wasser als eine Art Jungbrunnen betrachtete, trank große Mengen davon.) Sie war beeindruckt von der unregelmäßigen Dächersilhouette des Dorfs und der Reihe teurer, pompöser Strandhäuser. Sie war immer wieder fasziniert von den plumpen Linien der Hummerboote, die mit brummendem Motor und einer einsamen Gestalt im Heck dicht vor der Küste trieben. Ihr gefielen sogar die nackten Telefondrähte, die sich wie eine strichdünne Verbindung zur Außenwelt die Strandstraße entlang zum Dorf zogen.
    Agnes merkte plötzlich, daß sie die richtige Ausfahrt verpaßt hatte. Es passierte ihr ständig, daß sie vor sich hin träumte, wenn sie mit ihren Gedanken beim Fahren hätte sein sollen. Sie warf einen Blick auf den Zettel mit der Wegbeschreibung, der neben ihr auf dem Sitz lag. Sie konnte die nächste Ausfahrt nehmen und dann versuchen, sich zu orientieren. Es war eine lange Fahrt gewesen, und ihr rechter Oberschenkel war unangenehm verkrampft. Sie versuchte, das Bein in eine andere Stellung zu bringen, ohne dabei den Druck vom Gaspedal zu nehmen.
    Die Uhr am Armaturenbrett zeigte zwölf Uhr mittags. Agnes hatte Hunger, obwohl sie in Süd-Maine Rast gemacht hatte. Sie konnte sich Noras Haus als Gasthof
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