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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Autoren: Monika Dahlhoff
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die Straße, der Bürgersteig ist zu gefährlich.« Mama zog mich mit sich; ich hatte Angst zu stolpern, so schnell liefen wir. Brennende Schlangen stürzten vom Himmel, das entsetzliche Grollen, viel schlimmer als bei einem Gewitter, nahm kein Ende. An uns vorbei liefen Menschen mit hässlichen Masken. Solche lagen auch in unserem Keller, ich hatte mich immer vor ihnen gefürchtet, und Mama hatte sie weit weggelegt. Ich musste husten und wollte mir mit dem Waschlappen über die brennenden Augen wischen, da hielt Mama kurz an und drückte mir den Lappen wieder fest auf den Mund. Sie brauchte nichts zu sagen. Bevor wir weiterliefen, sah ich aus dem Augenwinkel Leute auf dem Bürgersteig liegen. Ich wollte nur fort von diesen reglosen Gestalten, den berstenden Scheiben, herunterkrachenden Steinen und Feuerschlangen in der Luft. Voller Angst, dass die glühend heißen Irrlichter uns verfolgten, wandte ich mich um. Wo wir eben noch gelaufen waren, leuchtete jetzt eine lodernd rote Wand. Wie ein Sturm rauschte das Feuer durch die Straßen und schluckte die Todesschreie. Ich schaute zu Mama auf. »Fritz! Wo ist Fritz?«, rief sie voller Panik, hustete und hielt sich ihren Waschlappen wieder vor den Mund. Ich schleuderte an ihrer Hand nach rechts, nach links und im Kreis. »Onkel Fritz?«, schrie ich, traute mich aber nicht, den Lappen dabei vom Mund zu lösen. Endlich hatte Mama unseren Beschützer entdeckt. Sie zeigte aufgeregt unter einen Torbogen.
    Wir standen nicht lange unter dem schweren Gemäuer. Onkel Fritz machte uns mit den Händen verständlich, wohin wir weiterlaufen sollten, doch plötzlich umzingelten Flammen das Tor. »Wir müssen zum Wasser!« Onkel Fritz fand einen Weg durch die Flammensäulen, und mit der Hitze stieg meine Angst, dass meine Kleider Feuer fingen. Wie oft hatte Opa mir erklärt, dass man nicht zu nah ans Feuer herangehen durfte. Strauchelnd lief ich hinter Mama her, den Blick an ihre vorwärtsfliegenden Stiefel geklammert, bis auf einmal immer mehr Stiefel und Schuhe neben Mama auftauchten und wir immer langsamer vorankamen, weil so viele Leute um uns herum waren. »Wir sind gleich am Ufer!«, rief Onkel Fritz. Anscheinend hatten sich viele Bewohner des Kneiphofs, die sich sonst nicht in Sicherheit hatten bringen können, an die Pregel geflüchtet. Onkel Fritz drängte sich als Erster an einer aufgeregten Menschentraube vorbei, und endlich standen wir am Fluss. »Los, ins Wasser!« Onkel Fritz’ Anweisung ließ mich zusammenzucken. Erst jetzt erkannte ich die vielen Menschen, die wie Baumstümpfe aus dem Wasser ragten. Stumm und erstarrt. Oder hörte ich sie leise weinen? Mama wollte meine Hand loslassen, aber ich hielt sie erschrocken fest. Da schüttelte Mama sie energisch von ihrer ab. Onkel Fritz legte ihr Peter in die Arme. Als ich hilflos aufschaute, nahm mich Onkel Fritz und trug mich auf seinem Arm ins Wasser. Meine Füße hingen im Fluss, und in kürzester Zeit hatten sich die Stiefel vollgesogen, und die Kälte und die Feuchtigkeit krochen an mir hinauf. Ich zitterte am ganzen Körper. »Dort, Charlotte, lass uns dort hingehen.« Onkel Fritz wies mit einem Kopfnicken nach vorn. Jetzt standen auch wir im Fluss, und ich weinte leise wie Mama, die mit Peter im Arm neben mir stand. Während wir dastanden, musste ich immer nötiger zur Toilette, traute mich aber nicht, es zu sagen, und kniff die Beine zusammen. Nach einer Weile fing Peter an zu schreien. »Er hat Hunger«, sagte Mama. »Aber ich kann ihn jetzt nicht füttern.« Sie versuchte ihn mit Worten und Singen zu beruhigen, doch es half nicht. »Ich kann den Kleinen kaum noch halten, Fritz.« Mutters Stimme klang elend. Ohne Vorwarnung ließ mich Fritz von seinem Arm hinunter, und ich stand bis zum Bauch im Wasser. Onkel Fritz nahm Mama den schreienden Peter ab. »Wir müssen durchhalten«, sagte er. »Wir werden es schaffen. Kommt näher, dann wärmen wir uns gegenseitig.« Bevor ich mich an Mama drängte, ließ ich das Pipi laufen. Das Gefühl von Wärme und Erleichterung ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Peters Weinen wurde mit der Zeit leiser, dann muss er über seinem Hunger eingeschlafen sein. Wie viele Stunden bis in die Nacht hinein haben wir wohl so dicht beieinander im Wasser verharrt? Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Irgendwann wurde ich trotz der Kälte müde.
    Stimmen … Wo kommen die Stimmen her? Träume ich? Ich erwachte auf dem Arm von Onkel Fritz. »Nein, hier ist kein Platz mehr. Der Bunker ist
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