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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Autoren: Monika Dahlhoff
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Milchsuppe, und dann brachte mich Oma zu Bett. Sie betete mit mir und schloss Mama und Onkel Fritz und Papa ins Gebet mit ein. Dann lag ich wach unter meiner Decke, Elsa wärmte mir die Füße, und ich schaute durch das kleine Fenster in den Sternenhimmel. »Papa?«, flüsterte ich. Und ich meinte, ihn hören zu können, wie er rief: »Monika, Engelchen, hier bin ich!«
    Das Leben auf dem Gutshof war für mich unbeschwert, ich ging schon früh mit einer Magd die Hühner füttern, hockte oft stundenlang mit Peter bei den Hasen, spielte mit den anderen Kindern und tollte mit Elsa über den Hof. Nach und nach vergaß ich die schrecklichen Bilder aus Königsberg, die mir noch tagelang im Kopf herumgespukt hatten. Heute vermute ich, dass meine Großeltern jegliche Nachrichten vom Krieg von mir fernhielten. Jeden Abend betete Oma mit mir. Dann dachte ich auch an Mama und Onkel Fritz und hoffte, dass sie bald zurückkämen.
    Kurz nach meinem vierten Geburtstag – Oma hatte mir eine Schüssel leuchtend roter Äpfel, die Opa frisch geerntet hatte, auf den Geburtstagstisch gestellt – fiel der erste Schnee in diesem Jahr. Als ich am frühen Morgen über den schwach beleuchteten Hof zum Hühnerstall lief, tanzten auf einmal kleine Flocken vor meiner Nase. Ich streckte mein Gesicht zum Himmel und versuchte, sie mit der Zungenspitze aufzufangen. Ich freute mich auf den Tag, ich ahnte noch nicht, dass dieser Tag mein ganzes Leben auf schreckliche Weise bestimmen sollte.
    Wir saßen in der Stube, als Elsa plötzlich von ihrer Decke aufsprang und knurrte. In der Ferne waren Lastwagenmotoren zu hören.
    »Da kommt ja doch noch das Heu«, sagte Opa. Er hatte den ganzen Tag auf die Lieferung des Tierfutters gewartet.
    »So spät?«, fragte Oma.
    Opa ging zum Fenster. »Na, beim ersten Schnee auf den Straßen …« Er führte seinen Satz nicht fort, sondern rief Oma zu: »Los, zieh die Kinder an. Ich glaube, die Russen kommen.« Draußen hallten Schüsse durch die Luft. Jetzt war der Krieg auch bei Oma und Opa angekommen. Opa löschte das Licht und schloss die Tür ab.
    »Hier, zieh deinen Wintermantel an, die Stiefel, und vergiss die Handschuhe und den Muff nicht, Monika. Mach schnell. Und sei ganz leise.« Omas Stimme überschlug sich fast. Sie selbst zog Peter seinen Schneeanzug an und wickelte ihn in eine Wolldecke. »Schschsch, mein Kleiner, schschsch«, sagte sie immerzu. Ich hatte furchtbare Angst und versteckte mich hinter Oma. Ein heftiger Knall nach dem anderen ließ das Haus erzittern. »Sie schießen die Tür auf«, sagte Opa.
    »Wir müssen uns verstecken!«, rief ich.
    »Zu spät, mein Kind. Komm zu mir.« Er zog mich hinter seinen Rücken. Und dann sah ich an seinem Hosenbein vorbei, wie ein Soldat in die Stube stürmte. Er richtete sein Gewehr auf Opa. Und dann stand noch einer in der Tür und noch einer und noch einer. Sie trugen alle dunkle, fremde Uniformen. Elsa sprang mit gebleckten Zähnen auf den vordersten Soldaten zu, ein Schuss, und sie flog ein Stück zurück, fiel zu Boden und blieb zuckend liegen. Blut strömte aus einer großen Wunde in ihrem Kopf. »Elsa, meine Elsa!«, rief ich und lief zu ihr. Opa hatte mich wohl festhalten wollen, aber da riefen die Soldaten etwas, das ich nicht verstand. Opa schrie: »Nein, nicht die Kinder, lassen Sie die Kinder hier! Nehmen Sie mich mit. Hören Sie, nehmen Sie mich!« Abermals krachte ein Schuss durch die Stube. Opa sackte in sich zusammen. Oma schrie verzweifelt, dann wieder ein Schuss.
    »Oma, Opa«, brüllte ich, während ich Elsas Bauch umklammerte. Ich wollte zu ihnen, aber ich konnte mich nicht bewegen, die Schüsse hallten noch immer in meinen Ohren. »Peter … Peter?«, rief ich. Wo war mein Bruder? Ich sah ihn nicht. Die Soldaten liefen durch das Haus, ein Soldat kam auf mich zu und wollte mich von Elsa wegreißen, aber ich umklammerte den leblosen Hundekörper nur noch fester. »Nein, nein, nein!«, schrie ich immer wieder. Ich spürte den Schlag im ersten Moment nicht, nie war ich auf diese Weise gestraft worden. Das Brennen im Gesicht und das Dröhnen im Kopf ließen mich verstummen. In diesem Augenblick riss mich der Soldat hoch und trug mich, so sehr ich auch zappelte und kreischte, nach draußen, wo hintereinander mehrere Autos und Lastwagen standen. Bei einem der Lastwagen wurde eine Plane hochgeworfen, und der Soldat warf mich auf die weinenden Kinder, die dicht gedrängt die Ladefläche füllten. Die kläglichen Rufe und das jämmerliche
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