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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Autoren: Monika Dahlhoff
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heimlich einen kleinen Koffer, schlich in der Dunkelheit aus dem Haus und ging zu Fuß über die von frischem Schnee bedeckte Straße zum Winterberger Bahnhof. Im Schein der Laternen lag sie weiß und wie unberührt vor mir. Ohne mich noch einmal umzuschauen, setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ein weiter Weg würde vor mir liegen, das ahnte ich. Aber auch ein Neuanfang.

Das Schweigen brechen

    D ie Flucht war der erste Schritt in ein neues Leben, und seitdem musste ich noch viele Schritte tun. Es war weiß Gott nicht leicht, und ich nahm manchen Umweg. Doch mit meinem Mann Klaus fand ich die Geborgenheit und Zuversicht, die ich brauchte.
    Dieses Jahr verbringen wir den Winter nicht in Marbella; Klaus soll auf Anraten des Arztes sein Herz schonen, und das Fliegen könnte im Moment eine zu große Belastung sein. Und so sitze ich an diesem Januarmorgen in aller Frühe allein bei einer Tasse Kaffee am Tisch und schaue durch die große Fensterfront in unseren Garten hinaus. Wie ein weißes Blatt Papier hat sich der Schnee über den Rasen gelegt. Mehrere Zentimeter muss es in der Nacht geschneit haben … Ich schiebe den Stoß bedruckter Seiten zusammen, die vor mir liegen, stehe auf und hole einen Vogelfutterring aus der Küche. Den Bademantel fest um meinen Körper gewickelt, öffne ich die Terrassentür, streife Hausschuhe und Wollsocken ab und stapfe barfuß zum Vogelhäuschen.
    Im Laufe meines Lebens habe ich unzählige Zettel und Blätter beschrieben. Heimlich. Bis heute habe ich mit niemandem über all das Unmenschliche gesprochen, das mir in meiner Kindheit und Jugend widerfahren ist. Auch nicht mit den Menschen, die ich liebe, mit meinem Mann nicht und nicht mit meinen Töchtern. So wie meine Mutter nie mit mir über ihr Leben und unsere Trennung gesprochen hat, so war auch ich die meisten Jahre meines Lebens stumm.
    Die grauenvollen Geschehnisse der Vergangenheit aber haben sich durch Träume und Erinnerungen immer wieder ihren Weg in mein Fühlen und Denken gebahnt und mein Leben in weiten Teilen mitbestimmt. Hunger, Tod, Gewalt und Missbrauch ließen mich niemals zur Ruhe kommen. Wie oft hatte ich sogar Angst, darüber lebensmüde oder verrückt zu werden! Vor vielen Jahren griff ich erstmals zu Notizblock und Stift und begann aufzuschreiben, was meinen Kopf besetzte. Fast zwanghaft suchte ich Gelegenheiten, mich im Schreiben zu sortieren, das Hirn wieder freizubekommen.
    Die Angst aber, jemand könnte die Flut an Zetteln entdecken, war so groß, dass ich immer wieder alles verbrannte. Wie sehr wünschte ich, auch meine Erinnerungen und damit diese ganzen grässlichen Erlebnisse dem Feuer übergeben zu können! Sie auszulöschen, für immer, das war wohl meine stille Hoffnung. Doch war das Geschriebene zu Asche verfallen, konnte ich nicht anders, als von vorn zu beginnen. So, wie es mir in den Sinn kam, so, wie ich fähig war und Gelegenheit hatte, es zu notieren. Das Aufschreiben war wie ein Gespräch mit mir selbst: Ich erzählte mir meine Kindheit, mein Leben, immer und immer wieder. Und während ich mit gespitztem Stift auf das Weiß kratzte, lösten sich Tränenfluten.
    Mein Mann Klaus, meine Töchter Katharina und Aylin, sie wissen noch nichts von den Grausamkeiten. Doch kann man solch ein Schicksal überhaupt verbergen? Wohin sollen denn die Trauer, die Wut und der Hass verschwinden? Und können diese enorme Liebesbedürftigkeit und Sehnsucht nach Wertschätzung, die durch Erniedrigung und Lieblosigkeit gewachsen sind, jemals gestillt werden?
    Die Mutterliebe, die mir fehlte, wollte ich meinen Kindern umso üppiger schenken. Wollte stets für sie da sein … Heute sind sie erwachsene Frauen. Und wenn wir auch nicht immer ein ungetrübtes Verhältnis haben, bleibt meine Liebe zu ihnen beständig. Vor allem für sie habe ich mein Schweigen gebrochen. Ich muss ihnen meine Geschichte zumuten, damit sie besser verstehen …
    Eine Kohlmeise pickt an dem Futterring, den ich heute Morgen aufgehängt habe. Still betrachte ich die grauen Tupfen, die meine Fußspuren in den Schnee gemalt haben.
    Im März wollen wir mit dem Auto doch noch nach Spanien aufbrechen, am Meer entlangspazieren und die winterkalten Glieder von der Sonne ein wenig wärmen lassen.

Über die Autorin

    M onika Dahlhoff wird 1940 in Königsberg geboren. An ihrem 18. Geburtstag verlässt sie ihre Familie und baut sich in Düsseldorf ein eigenes Leben auf. Viele Jahre lang muss sie hart arbeiten, um eine glückliche und sorgenfreie Existenz
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