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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Autoren: Monika Dahlhoff
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dem Kopf im Wasser.
    Blau und rot.
    Ich schlotterte, jaulte vor Entsetzen und wollte das Kind doch nicht einfach so im Wasser liegen lassen. Ich hob das nasse, nackte Wesen auf und sein vogelähnlicher Körper und das zerknautschte Gesichtchen passten in eine Hand.
    Das Kind war tot.
    Ich war hin- und hergerissen zwischen Ohnmacht und Wahnsinn.
    Ich muss es verstecken, ich muss es verstecken, das darf niemand sehen, niemand … Ich empfand keine Schmerzen mehr, ich kümmerte mich nicht um meine blutende Scheide, ich wollte diesen leblosen kleinen Klumpen mit den geschlossenen Äuglein nur schnell fortschaffen.
    Ich legte es in einen Schuhkarton und vergrub ihn ganz hinten im Kleiderschrank. Fort. Es ist fort. Es ist nie gewesen.
    Im blutigen Nachthemd, barfuß, ging ich hinüber zum Kücheneingang der Gaststätte. Die Blutstropfen leuchteten im Schnee. Mama entfuhr ein Schrei, als sähe sie ein Gespenst. Irgendjemand schob mir einen Stuhl hin. Dann verlor ich das Bewusstsein.
    Nachdem ich wieder zu mir gekommen war, hatte ich wie im Fieberwahn von einem Baby gesprochen, sodass das tote Kind schnell gefunden worden war. Ein Arzt hatte mich notdürftig versorgt, ich lag dumpf da und sprach kein Wort mehr, obwohl mich Mama mit Fragen bedrängte.
    Auf einmal kam sie allein mit einer Pistole ins Zimmer zurück und hielt sie mir an den Kopf. »Wenn du jetzt nicht endlich sagst, von wem das Kind war …« Und auf einmal musste ich aus lauter Verzweiflung lachen. Ich konnte doch nicht antworten: Von Papa. Mamas blaue Augen blitzten mich an.
    »Ich weiß es nicht, es waren so viele Männer.« Damit wurde es wieder dunkel um mich.
    »Da hast du aber Glück gehabt. Du warst fast schon tot«, sagte eine junge Krankenschwester.
    »Ich war schon ein paar Mal fast tot.« Ich erschrak über meine eigenen Worte.
    Zwei, drei Wochen hatte ich, ohne auch nur einmal Besuch erhalten zu haben, in dem Krankenzimmer gelegen und sollte am nächsten Tag entlassen werden, als mir die Krankenschwester einen Brief brachte. »Ich weiß leider nicht, wer ihn abgegeben hat«, sagte sie.
    Nachdem ich wieder allein war, öffnete ich den Umschlag, auf dem nur mein Name stand. Es war Geld für ein Taxi darin. Kein liebes Wort stand dabei, keine Unterschrift. Aber es war Mamas Schrift.
    Als ich zu Hause ankam, wurde ich zwar von meinen Geschwistern und unserem Personal freundlich begrüßt, aber Mama schaute mich nur an und sagte nichts. Toni kam erst später dazu. »Na, dann kannst du ja jetzt wieder helfen«, sagte er bloß.
    Ein riesiger Berg Bügelwäsche und ein noch größerer Haufen Schmutzwäsche waren anscheinend Empfang genug. Und obwohl es mir widerstrebte, in den alten Trott einzusteigen und mich wie eine Dienstmagd benutzen zu lassen, stand ich wenig später am Bügelbrett. Ich hatte jedoch nicht mal eine Decke fertig gebügelt, als Mama mich erneut bedrängte. »Ich will jetzt sofort wissen, wer uns das angetan hat!«, sagte sie. »Derjenige muss bestraft werden.«
    Wieder log ich.
    »Warum weißt du das nicht?«, ließ Mama sich nicht abschütteln.
    »Weil … weil ich mit mehreren Männern etwas getan habe.«
    »Sag mir die Namen. Alle.«
    Ich presste die Lippen aufeinander. Sie nahm mir das Bügeleisen aus der Hand und hielt es drohend hoch. »Wenn du jetzt nicht redest, verbrenne ich dir dein hübsches Gesicht. Dann wird dich kein Mann mehr anfassen.«
    Zitternd sagte ich: »Ich kenne sie nicht. Ich muss wohl betrunken gewesen sein. Immer, wenn alle gefeiert haben. Ich … ich glaube, ich muss das immer tun, ich bin bestimmt krank, dass ich das immer mache.«
    »Bist du etwa eine Nymphomanin?«
    »Ja, bestimmt«, antwortete ich, obwohl ich gar nicht wusste, was das sein sollte.
    Es vergingen ein paar Wochen, als Toni begann, mir wieder nachzustellen. »Vergiss nicht, du gehörst mir«, sagte er. Und: »Nie habe ich eine Frau geliebt wie dich.«
    Diesmal wusste ich, es würde immer wieder von Neuem losgehen, es würde nicht enden. Ich würde in diesem Familien-Gulag gefangen bleiben, wenn ich jetzt nicht ausbrach.
    Ich lag in meinem Zimmer, hatte eine Kerze angezündet und sah noch einmal dieses kleine, unschuldige Gesicht vor mir, dieses Kind, das um sein Leben gebracht worden war. Ich hatte mein Leben noch. Es schien mir nicht viel wert zu sein, aber ich hatte es noch.
    Die Demütigungen, die Erniedrigungen, der Missbrauch und nicht zuletzt auch die Lieblosigkeit wollte ich endlich hinter mir lassen.
    Noch in derselben Nacht packte ich
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