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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Autoren: Monika Dahlhoff
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herausschrubbte, musste ich würgen. Immer wieder brach ich unter Tränen zusammen. Das braunrote Wasser verschwand im Ablauf, aber das Gefühl von Schmutz brannte sich in meine Haut ein.
    Ich wollte schon das Kellerlicht löschen, als mir das zerrissene Nachthemd einfiel. Es lag in einer Ecke wie ein Stück Lumpen; ich erschrak bei dem Anblick, griff es und warf es in den Ofen. Danach stieg ich die Treppen hinauf in die Wohnung. Wie benommen schlich ich zu meinem Zimmer. Nur keinen wecken, nur keinen wecken , war der einzige Gedanke.
    Am Morgen danach fand mich Annemarie. »Was machst du denn auf dem Boden? Hast du nach unserem Tanzabend gestern nicht mehr ins Bett gefunden?« Sie lachte unbekümmert. »Leider kannst du nicht ausschlafen, ich muss heute noch mal in den Laden, es kommt eine Lieferung, die nicht abbestellt werden konnte. Machst du das Frühstück?«
    »Ja, geh ruhig«, hörte ich mich sagen und spürte im gleichen Moment eine Übelkeit in mir aufsteigen, die kein Warten zuließ. Ich rannte an Annemarie vorbei ins Bad, schaffte es gerade noch, die Tür zu verschließen, und übergab mich in die Toilette.
    Als ich den Schlafanzug auszog und das Gästetuch zwischen den Beinen entfernte, sah ich meine braunverklebten Schenkel, und erneut drehte sich mir der Magen um. Ich spuckte grüne Galle, mehr war nicht mehr da. Mein Blick fiel auf das schmutzige Handtuch auf dem Boden, und in diesem Augenblick überkam mich zum ersten Mal Wut: eine unbändige Wut und ein nie gekannter Hass. Ich trampelte wie ein wildgewordenes Tier auf dem Stück Frottee herum, es war mir in diesem Moment völlig gleichgültig, ob jemand das Stampfen und Fluchen hören konnte.
    Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, bis ich mich wieder beruhigt hatte und in die Dusche gestiegen war. Lange Zeit ließ ich das viel zu heiße, dampfende Wasser über meinen Körper strömen, den ich mit einer Bürste und Seife bearbeitete; vor allem die Scham schrubbte ich wie eine Besessene und vergaß darüber völlig die Zeit. Aber Annemarie war schon wieder zurück und als ich in ein großes Badetuch gewickelt in mein Zimmer lief, rief sie mir aus der Küche zu, ich solle mich ruhig noch etwas hinlegen, sie würde sich heute ums Frühstück kümmern.
    In den nächsten Tagen fand das Leben für mich wie unter einer Glasglocke statt. Ich konnte die anderen sehen, aber eine unsichtbare Wand, die ich nicht durchbrechen konnte, trennte uns. In einsamen Momenten wünschte ich mir, dass mich jemand in den Arm nahm, mir über den Kopf strich. Doch dann konnte ich nicht die kleinste Berührung ertragen; selbst die kleine Marion versuchte ich von mir fernzuhalten. Und ich hätte lieber sterben wollen, als jemals jemandem von der schrecklichen Nacht zu erzählen.
    Toni versuchte ich aus dem Weg zu gehen, doch das gelang im Zusammenleben kaum; schon ein Blick von ihm ließ mich erzittern. Ein paar Mal berührte er mich flüchtig, und ich musste zur Toilette laufen und mich übergeben. Auch der alte Waschzwang war wieder da, ich kratzte mir die Haut blutig, um sie sauber zu bekommen, sauber von dem Dreck, der nicht erst seit dieser Nacht an mir klebte. Ich blieb das Gulag-Kind, das vom Schmutz und von Verwahrlosung gezeichnete Gulag-Kind, auch wenn man mir feine Wäsche und Kleider anzog. Ich konnte die Vergangenheit nicht abstreifen wie alte Kleider, und das Schicksal brachte es mit sich, dass mir immer neue Wunden zugefügt wurden, mit denen die alten aufbrachen.
    Die Familie spürte, dass mit mir etwas nicht stimmte, aber niemand vermutete etwas Böses dahinter. Immer wenn ich bangte, dass der Vorfall ans Licht kommen würde, etwa weil ich mich nicht mehr in den Keller hinabtraute, suchte ich eine Ausrede. »Die Pflegeeltern haben mich immer in den Keller gesperrt, deshalb will ich da nicht mehr hinunter.« Und auch Toni sorgte dafür, dass unser schreckliches Geheimnis gewahrt blieb. So übernahm er plötzlich freiwillig das Befeuern des Ofens. Er trank auch für einige Zeit weniger und ging sogar mit Thomas und Marion fürsorglicher um als sonst. Sie hatten viel Spaß mit ihm, und ich beneidete sie um ihre Unbeschwertheit.
    Für mich hingegen war es eine Zeit voller Verzweiflung. Ich wollte und konnte nicht zurück zu den Pflegeeltern; der Pflegevater würde mich totschlagen, wenn er hörte, was ich zugelassen hatte. Schwester Maria würde ich nie mehr ins Gesicht schauen können, geschweige denn, sie nach einem Platz bei den Nonnen fragen. Und wohin
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