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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Autoren: Monika Dahlhoff
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zumute war, mich missbrauchen ließ und auch noch dankbar war, wenn er hin und wieder ein Lob aussprach, ein liebes Wort sagte. Wohl weil er wusste, dass er mich dadurch immer fester an sich band.
    Der Gulag hatte ein wildes Tier aus mir gemacht, jetzt war ich ein unterwürfiger Hund, dressiert, um für die anderen zu tanzen und zu springen, wann immer sie wollten.
    Dabei sehnte mich nach nichts anderem als nach ehrlicher Liebe und Geborgenheit – und nach Freiheit und Selbstbestimmung. Doch mein heimliches Sehnen blieb unerfüllt.
    Die Gaststätte in Winterberg wurde bereits in der ersten Saison so gut besucht, dass Toni und Mama alle ihre Schulden in Oberstdorf abbezahlen konnten. Und der Bau des Wohnhauses war mittlerweile ebenfalls fortgeschritten, sodass Mama nach der Geburt des Kindes sicher bald mit Marion, Thomas und dem Baby herziehen würde. Ungeduldig wartete ich auf den Tag, an dem mein jüngstes Geschwisterchen das Licht der Welt erblicken sollte.
    Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Mama fragte mich, welcher Name mir denn für mein Schwesterchen gefallen würde. Ich brauchte nicht lange zu überlegen und rief »Gabriele!« durchs Telefon. »Gabriele ist ein wunderhübscher Name«, sagte Mama.
    Und dann nannten sie das Baby tatsächlich nach meinem Vorschlag, was mich unendlich stolz und froh machte. Ich fühlte mich dadurch als wichtiger Teil der Familie und genoss die Wertschätzung. Vielleicht würde mit diesem niedlichen Geschöpf, das jetzt zu uns gehörte, alles wieder gut werden.
    Nichts wurde gut. Mit Mamas Ankunft – nur Annemarie war in Oberstdorf geblieben – wurden mir immer mehr Aufgaben übertragen. Oft kümmerte ich mich nach einer langen Nacht in der Gaststätte früh am Morgen um das Baby, weil Mama und Toni noch Schlaf brauchten, immer häufiger auch ihren Rausch ausschliefen. »Die Gäste wollen nun mal mit uns anstoßen«, verteidigten sie sich. Wenn meine Geschwister nicht so lieb gewesen wären und ich sie nicht so lieb gehabt hätte, ich weiß nicht, ob ich das alles geschafft hätte. Aber auch Mama und Toni arbeiteten beide viel und sahen müde aus.
    Wenn Mama sich mit Toni gestritten hatte, fuhr sie mit dem Auto, das er ihr geschenkt hatte, nach Winterberg ins Städtchen und kleidete sich neu ein. Wie schon in Oberstdorf schaute man sich auch hier bewundernd nach ihr um. Mir waren ihre Kleider egal, ich liebte sie auch ungeschminkt in ihrem Bademantel, wenn sie lustlos dreinblickte. Dann versuchte ich, sie aufzuheitern. Aber sie nahm mich meist gar nicht wahr.
    Wenn ich gehofft hatte, dass Toni durch den Familienzuwachs und die viele Arbeit nicht mehr dazu kommen würde, mich in eine dunkle Ecke zu ziehen, hatte ich mich getäuscht. Meine Niedergeschlagenheit, die ich in Arbeit ertränkt hatte, traf mich erneut mit voller Wucht. Ich hatte schon lange keinen Appetit mehr und aß nur mit Widerwillen und sehr wenig. Ich wurde richtig mager und hatte fast keinen Busen mehr. Tagsüber verspottete Toni mich deswegen vor den anderen, nachts nahm er sich, was er brauchte.
    Den jungen Männern, die unser Lokal besuchten, gefiel ich trotz der fehlenden Rundungen; sie scherzten mit mir, luden mich zu Spazierfahrten ein und wollten sich mit mir verabreden. Doch Toni tat alles, um dies zu verhindern. Einmal jedoch stellte er mich einem Herrn vor, der sicher gut zehn Jahre älter war als ich. »Geh mit ihm aus, er ist eine gute Partie«, sagte er und lachte.
    Später am Abend, als ich vom Essen mit diesem Herrn zurückkam, sah ich schon, wie sich Tonis Augen verdunkelten. Ich tat alles, um nicht mit ihm allein zu sein, doch Mama klagte über Kopfschmerzen und wollte sich hinlegen. In dieser Nacht drehte Toni die Musikbox voll auf, warf mich brutal über den Tresen und schlug mich, bis mir das Blut aus der Nase spritzte. »Was hat der Kerl mit dir gemacht? Hast du ihn an dich rangelassen?«, schrie er. Danach lag er weinend auf mir, küsste mir das Blut aus dem Gesicht und jammerte, ich solle ihm verzeihen.
    Die häufige Übelkeit machte mir zunächst keine Sorgen. Übelkeit gehörte seit Russland zu meinem Leben wie für andere das Lachen. Doch ich nahm zu, obwohl ich nach wie vor wenig aß. Durch die viele Arbeit hatte ich eine unregelmäßige Menstruation, aber jetzt rechnete ich nach, und meine letzte Periode lag schon mehrere Monate zurück. Doch wem sollte ich mich anvertrauen? Ich konnte nur mit Toni darüber sprechen.
    »Ich lass mir etwas einfallen«, sagte er. »Keine
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