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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Autoren: Monika Dahlhoff
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sie nicht aufgefangen hätte. Ich stand reglos da. Was war hier los? Ob das Baby kam? Aber es war doch noch viel zu früh, hatte Mama gesagt. Ich hatte ständig nachgefragt, wann es endlich so weit sei.
    Der Soldat trug meine Mutter in die Wohnstube und legte sie aufs Sofa. »Ich hole einen Arzt!«, rief er und war auch schon aus der Tür. Ich streichelte Mama durch den weichen Stoff ihres Kleiderärmels, aber sie bewegte sich nicht. »Wach doch auf, Mama«, flüsterte ich. »Papa kommt bestimmt auch bald.«
    Meine Mutter kam tatsächlich wieder zu sich, noch bevor ein Arzt in Uniform und der fremde Soldat ins Zimmer stürmten. »Gucken Sie mal den Bauch, da ist mein Brüderchen drinnen, deshalb ist Mama sicher umgefallen«, plapperte ich drauflos, als der Arzt sich über das Sofa beugte. Sanft schob er mich zur Seite, untersuchte meine Mutter und sprach leise mit ihr. Ich hörte ihr Wimmern, dann schickte sie die Männer fort.
    Während sie das Päckchen auspackte, in dem die wenigen Habseligkeiten meines Vaters lagen, brach sie immer wieder in Tränen aus. Ich legte meine dünnen Arme um ihren Hals. »Mama, hör doch auf zu weinen«, flehte ich.
    Erst eine ganze Weile später setzte sie sich auf und holte ein Taschentuch hervor, um sich die Tränen zu trocknen. Ihre Augen waren geschwollen, und die blonden Haare klebten feucht an den glühenden Wangen. Sie presste sich das Taschentuch gegen die Augen und weinte nur noch heftiger. Hatte Papa nicht gesagt, ich sollte auf Mama aufpassen? Ich nahm ihr das Taschentuch aus der Hand und wischte über ihr Gesicht. Doch auch das half nicht. Sie sank auf das Sofa zurück, und ich legte mich zu ihr, ganz nah an den Babybauch. Irgendwann müssen wir beide über ihrem Weinen eingeschlafen sein.
    Ich wachte auf, weil in Mamas Bauch etwas heftig rumpelte. Meine Mutter sah mich ohne ein Lächeln an. »Ich hole uns etwas zu trinken«, sagte sie, kam mit zwei Gläsern Wasser aus der Küche zurück und setzte sich zu mir. »Du musst jetzt ganz tapfer sein, Monika.« Noch nie hatten ihre Augen so traurig ausgesehen. »Papa kommt nicht mehr zu uns zurück. Er ist tot. Sein Flugzeug ist vom Himmel gefallen.«
    Jetzt weinten wir beide. »Aber wo ist er denn, wenn er tot ist?«, fragte ich.
    »Beim lieben Gott im Himmel.«
    »Für immer?«
    »Ja, Monika. Irgendwann werden wir ihn dort wiedersehen.«
    »Und mein Brüderchen, wird er es dann auch sehen?«
    »Ja, irgendwann …«
    Ich weiß nicht, wie viele Tage meine Mutter noch weinte, es kam mir unendlich lange vor. Als eines Morgens die Wehen einsetzten, war es für die Geburt eigentlich noch zu früh. Doch es gab keinen Aufschub mehr, Mama musste ins Krankenhaus.
    Ich freute mich, dass Oma und Opa kamen, um auf mich aufzupassen. Und am nächsten Tag fuhren sie mit mir ins Krankenhaus; mein Bruder war geboren.
    »Der ist aber klein!«, rief ich enttäuscht. »Mit dem kann ich ja gar nicht spielen.«
    »Du glaubst nicht, wie schnell der groß wird«, sagte meine Oma zum Trost. Doch dann begann sie zu schluchzen, und auch meiner Mutter liefen wieder die Tränen über das Gesicht. Selbst in den Augen von Opa stand das Wasser.
    »Ach, heult doch nicht, ich werde später mit ihm spielen«, sagte ich schnell. »Jetzt passe ich erst mal auf ihn auf, damit ihm nichts passiert.« Und dann fiel mir ein, dass er noch gar keinen Namen hatte, und ich fragte meine Mutter danach.
    »Deinem Vater gefiel Peter als Jungenname besonders gut, sollen wir ihn Peter nennen?«
    Ich nickte. »Na, Peterchen …«
    Erst als Mama mit meinem Bruder schon eine Weile zu Hause war, erfuhr ich, dass er niemals würde laufen können. Er hatte eine Rückenlähmung. Für meine Mutter bedeutete das noch mehr Arbeit, als sie ohnehin mit einem Säugling gehabt hätte. Das Stillen, das Wickeln, das Baden, die Bewegungsübungen, die sie mit Peter machen musste, die Wäsche, der Haushalt … da blieb nicht mehr viel Zeit für mich. Ich spielte häufig allein mit meinen Puppen, am liebsten Vater, Mutter, Kind.
    Manchmal war ich froh, wenn das Sirenengeheul losging und wir in den Keller mussten, denn da konnte ich ganz nah bei Mama sein. Doch nach der ersten Aufregung zog sich das Warten auf die Entwarnung hin. Außer uns waren nur die alten Leute aus der Parterrewohnung im Keller, wie wir hatten auch sie ein altes Sofa mit Decken in den kaltfeuchten Raum hineingestellt, es gab Kerzen und eine Petroleumlampe, aber es blieb ungemütlich. Wenn Peterchen noch anfing zu schreien und
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