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Eine für alle

Eine für alle

Titel: Eine für alle
Autoren: Sara Paretsky
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die Lehne hinweg mit Lotty. Als wir aber auf dem Lake Shore Drive waren, konnte ich sie wegen des Motorengeräusches nicht mehr hören.
    Erst an der Ampel zwischen dem Inner Drive und der Con-gress Street bekam ich Bruchstücke ihres Gespräches mit. Lotty regte sich über Carol Alvarado auf, ihre Krankenschwester und rechte Hand in der Praxis. Max war anderer Meinung. Die Ampel sprang um, ehe ich mitbekam, wo das Problem lag. Ich fuhr die Congress Street entlang, auf Louis Sullivans Meisterwerk zu. Lotty ruckte mit dem Kopf weg von Max und tadelte mich scharf wegen der Geschwindigkeit, mit der ich in die Kurve gegangen war. Ich schaute Max im Rückspiegel an; er machte eine verkniffene Miene. Ich hoffte, die beiden planten zur Feier des Abends keinen Riesenkrach, Und überhaupt, warum sollten sie sich schon wegen Carol streiten?
    In dem Halbkreis, der die Congress Street mit der Michigan Avenue verbindet, gerieten wir in einen Stau. Autos, die zur Tiefgarage auf der Südseite wollten, kamen nicht an denen vorbei, die versuchten, vor dem Theatereingang zu halten. Zwei Polizisten dirigierten verzweifelt den Verkehr, verscheuchten pfeifend Leute, die vor dem Auditorium an den Straßenrand fahren wollten.
    Ich hielt am Straßenrand. »Ich lass euch hier raus und fahre zum Parkhaus.« Max gab mir meine Eintrittskarte, bevor er sich vom Rücksitz zwängte. Obwohl ich eine Decke darauf gelegt hatte, um Peppys Spuren zu verwischen, sah ich, dass an seinem Smokingjackett rotgoldene Haare klebten, als er ausstieg. Verlegen warf ich einen verstohlenen Blick auf Lottys maßgeschneidertes korallenrotes Abendkleid. Auch daran hingen ein paar Haare. Ich konnte nur hoffen, dass ihre Verstimmung sie ablenken würde. Ich wendete scharf, ignorierte ein empörtes Pfeifen und schlängelte mich mit dem Trans Am durch die Monroe Street. Die Garage auf der Nordseite war nur achthundert Meter vom Auditorium entfernt, aber ich trug einen langen Rock und hohe Absätze, nicht die ideale Joggingkleidung. Ich schlüpfte neben Lotty in die Loge, die Michael uns besorgt hatte, als die Saalbeleuchtung ausging. Michael, der im Frack streng und unnahbar wirkte, kam auf die Bühne. Er eröffnete den Abend mit den Don-Quichotte-Variationen von Strauss. Das Theater war voll – Chicago Settlement war aus irgendeinem Grund ein schickes Wohltätigkeitsprojekt geworden. Es war kein Publikum von Musikliebhabern. Es wurde viel geflüstert und in den Pausen zwischen den Variationen geklatscht. Michael machte ein finsteres Gesicht, wenn er aus der Konzentration gerissen wurde. Einmal wiederholte er die letzten dreizehn Takte eines Satzes, wurde aber wieder unterbrochen. Daraufhin machte er eine wütende, wegwerfende Geste und spielte die letzten beiden Variationen, ohne auch nur nach Luft zu schnappen. Das Publikum applaudierte höflich, wenn auch nicht begeistert. Michael verbeugte sich nicht einmal, ging nur schnell von der Bühne. Die nächste Darbietung stieß auf ein größeres Echo: Der Kinderchor von Chicago Settlement sang fünf Volkslieder. Der Chor war für rigorose Proben bekannt, und die Kinder sangen mit wunderschöner Klarheit, aber was das Publikum mitriss, war ihr Aussehen. Ein PR-Genie hatte die Idee gehabt, Folklorekleidung verkaufe sich besser als Chorgewänder, deshalb schimmerten bunte afghanische Dashiki- und Samtjacken neben den bestickten weißen Kleidern der Mädchen aus El Salvador. Das Publikum brüllte nach einer Zugabe und applaudierte stehend den Solisten - einem äthiopischen Jungen und einem iranischen Mädchen.
    Während der Pause ließ ich Max und Lotty in der Loge sitzen und schlenderte ins Foyer, um die Kostüme der Gönner zu bewundern - diese Herrschaften waren noch farbenprächtiger ausstaffiert als die Kinder. Wenn Lotty und Max sich selbst überlassen wurden, legten sie ihre Meinungsverschiedenheiten vielleicht bei. Lottys heftige Art lässt in allen ihren Freundschaften die Funken sprühen. Ich wollte nicht mitbekommen, was auch immer sie mit Carol am Kochen haben mochte. Auf dem Weg aus der Loge verfing ich mich mit dem Absatz im Rocksaum. Ich war es nicht gewöhnt, mich in Abendkleidung zu bewegen. Ich vergaß ständig, kürzere Schritte zu machen; alle paar Meter musste ich stehen bleiben und den Absatz aus den zarten Fäden ziehen.
    Ich hatte den Rock vor dreizehn Jahren für eine Weihnachtsfeier der Anwaltskanzlei meines Mannes gekauft. Die reine schwarze Wolle, schwer mit Silber durchwirkt, ließ sich nicht mit
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