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Eine Frau in Berlin

Eine Frau in Berlin

Titel: Eine Frau in Berlin
Autoren: Anonyma
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mehr von ihnen. Schon jetzt wirken sie geschlagen und gefangen. An uns, die wir am Bordstein stehen, schauen sie stumpf und blicklos vorbei. Offenbar sind wir, wir Volk oder Zivilisten oder Berliner oder was wir sind, ihnen gleichgültig, ja lästig. Daß sie sich ihrer äußeren Herabgekommenheit schämen, glaub ich nicht. Die sind zu stumpf und müde dazu. Abgekämpft. Ich mag gar nicht mehr hinsehen.
    An den Mauern schmierig zerlaufene Kalkbuchstaben, die anscheinend die Truppen zu irgendwelchen Sammelplätzen leiten sollen. Am Ahornbaum gegenüber hängen, mit Heftzwecken festgepinnt, zwei Anschläge. Kartonstücke, mit Rotstift und Blaustift säuberlich handbeschrieben und mit den Worten »Hitler« und »Goebbels« untermalt. Das eine Schild warnt vor Kapitulation und droht mit Erhängen und Erschießen. Das andere, »Forderungen an die Berliner« betitelt, warnt vor aufsässigen Ausländern und fordert alle Männer auf, zu kämpfen. Die Zettel fallen überhaupt nicht auf. Das Handgekritzel wirkt so kläglich und unernst, so geflüstert.
    Ja, die Technik hat uns verwöhnt. Daß wir nicht von der Rotationsmaschine oder über die Lautsprecher bedient werden, erscheint uns armselig. Von Hand geschrieben oder aus einem Mund dünn hinausgekreischt – was kann das schon sein? Unsere Technik hat die Wirkung von Rede und Schrift selbst entwertet. Einzelgekreisch, handgemalte Zettel, 90 Thesen an einer Kirchentür in Wittenberg, mit dergleichen wurden früher Volksaufstände entfesselt. Für uns heute muß es dicker kommen, weitere Kreise ziehen, muß über Apparate multipliziert und potenziert werden, damit es wirkt. Eine Frau, an den Zetteln herumstudierend, faßt das in einem Satz zusammen: »Da sieht man, wie die Brüder auf'n Hund jekommen sind.«
    Im Keller, 22 Uhr. Nach der Abendsuppe gönnte ich mir oben etwas Bettruhe, trabte dann abwärts. Schon war die Kellergemeinde vollzählig versammelt. Heute wenig Beschuß und, obwohl die Zeit dafür heran ist, bisher kein Luftangriff. Eine nervöse Heiterkeit bricht aus. Allerlei Geschichten kursieren. Frau W. ruft: »Lieber ein Russki aufm Bauch als ein Ami aufm Kopf.« Ein Witz, der schlecht zu ihrem Trauerkrepp paßt. Fräulein Behn kräht durch den Keller: »Nu woll'n wir doch mal ehrlich sein – Jungfern sind wir wohl alle nicht mehr.« Sie bekommt keine Antwort. Ich überlege, wer doch. Wahrscheinlich die jüngere Portierstochter, die erst sechzehn ist und seit dem Fehltritt ihrer älteren Schwester stark bewacht wurde. Und bestimmt, wenn ich mich auf Gesichter junger Mädchen verstehe, das achtzehnjährige S-tinchen, das drüben friedlich schlummert. Zweifelhaft erscheint mir die Sache bei dem jungen Mädchen, das wie ein junger Mann aussieht. Aber das ist wohl ein Sonderfall.
    Eine Frau ist heute neu im Hauskeller, bisher ging sie stets die sechs Ecken weit zum öffentlichen Bunker, der für sicher gilt. Sie lebt allein in ihrer Wohnung, ob verwitwet, verlassen oder geschieden, weiß ich noch nicht. Über ihre linke Wange hinweg zieht sich ein eitriges Ekzem. Sie berichtet, erst flüsternd, dann laut, daß sie sich ihren Ehering am Gummi ihres Schlüpfers festgezurrt hat. »Wenn die erst da dran sind, ist mir auch der Ring egal.« Allgemeines Gelächter. Immerhin dürften eitrige Ekzeme im Gesicht vor solchen Erlebnissen schützen. Auch was wert heute.
    Montag, 23. April 1945, 9 Uhr früh
    Verblüffend ruhige Nacht, kaum Flak. Ein neuer Kellerbürger kreuzte auf, der Mann der ausgebombten Frau aus Adlershof, die hier bei ihrer Mutter unterkroch. Der Mann kam in Uniform und klammheimlich, trug eine Stunde später Räuberzivil. Wieso? Keiner spricht davon, keiner schenkt ihm Beachtung. Abgebrühter Frontsoldat, wirkt noch ziemlich kräftig, ist uns herzlich willkommen. Desertion erscheint plötzlich als selbstverständlich, ja geradezu als erfreulich. Ich muß an die dreihundert Spartaner des Leonidas denken, die in den Thermophylen standhielten und fielen, wie das Gesetz es befahl. Das hat man in der Schule gelernt, man hieß es uns bewundern. Mag sein, daß da und dort dreihundert deutsche Soldaten sich ähnlich verhalten. Drei Millionen tun es nicht. Je größer, je zufälliger der Haufen, desto geringer die Chance für Schulbücher-Heldentum. Von Haus aus haben wir Frauen auch wenig Sinn dafür. Wir sind vernünftig, praktisch, opportunistisch. Wir sind für lebende Männer.
    Gegen Mitternacht fiel ich vor Müdigkeit fast von meinem Kellerstuhl (woher soll
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