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Eine Frau in Berlin

Eine Frau in Berlin

Titel: Eine Frau in Berlin
Autoren: Anonyma
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Lippen.
    Wieder oben in der Dachwohnung. Mein Zuhause ist sie nicht. Ich hab keins mehr. Wohl war auch die möblierte Stube, die mir weggebombt wurde, nicht mein. Immerhin hatte ich sie im Lauf von sechs Wohnjahren mit meiner Lebensluft erfüllt. Mit meinen Büchern und Bildern und den hundert Sachen, die man um sich häuft. Mein Seestern vom letzten Friedenssommer auf Norderney. Der Kelim, den Gerd mir aus Persien mitgebracht hatte. Die verbeulte Weckeruhr. Photos, alte Briefe, die Zither, meine Münzen aus zwölf Ländern, die angefangene Strickerei – all die Andenken, Häute, Schalen, Ablagerungen, der warme Trödel gelebter Jahre.
    Jetzt, wo alles weg ist und mir nur ein Handkoffer mit Kleiderkram bleibt, fühle ich mich nackt und leicht. Weil ich nichts mehr habe, gehört mir alles. Zum Beispiel diese fremde Dachwohnung. Das heißt, ganz fremd ist sie nicht. Wohnungsinhaber ist ein ehemaliger Kollege von mir. Ich war des öfteren hier zu Gast, als er noch nicht einberufen war. Wir tätigten zeitgemäße Geschäfte miteinander: seine dänischen Fleischkonserven gegen meinen französischen Kognak; meine französische Seife gegen die Strümpfe, die er über Prag bekam. Ich konnte ihm noch eben meine Ausbombung mitteilen und bekam Erlaubnis, hier einzuziehen. Zuletzt hat er sich aus Wien gemeldet, wo er bei einer Zensurstelle der Wehrmacht saß. Wo er jetzt ist – ? Jedenfalls sind Dachwohnungen wenig gefragt. Außerdem regnet es durch, da die Ziegel zum Teil zertöppert sind oder weggepustet.
    Ich finde keine Ruhe hier oben, trabe immerfort durch die drei Räume. Systematisch habe ich alle Schränke und Schübe nach Brauchbarem abgesucht, das heißt nach Eßbarem, Trinkbarem, Brennbarem. Leider fast nichts gefunden. Da hat die Frau Weiers, die hier saubermachte, wohl vorgearbeitet. Jetzt gehört alles allen. Man ist nur noch lose mit den Dingen verbunden, unterscheidet nicht mehr klar zwischen eigenem und fremdem Besitz.
    Eingeklemmt in einer Schubladenritze fand ich einen Brief an den Wohnungsinhaber. Ich schämte mich, daß ich ihn las, und las ihn doch. Ein verliebter Liebesbrief, hab ihn im Bad weggespült. (Noch haben wir die meiste Zeit Wasser.) Herz, Schmerz, Liebe, Triebe. Was für ferne, fremde Wörter. Offenbar setzt ein verfeinertes, wählerisches Liebesleben regelmäßige, ausreichende Mahlzeiten voraus. Mein Zentrum ist, während ich dies schreibe, der Bauch. Alles Denken, Fühlen, Wünschen und Hoffen beginnt beim Essen.
    Zwei Stunden später. Das Gas brennt mit sterbendem Flämmchen. Seit Stunden stehen die Kartoffeln darauf. Die armseligste Schnapskartoffel im Land, sie zerfällt zu Matsch und schmeckt nach Pappe. Eine davon hab ich halb roh geschluckt. Seit heute früh schon stopfe ich mich voll. Hab bei Bolle die hellblauen Milchmarken eingelöst, die Gerd mir zu Weihnachten geschickt hat. Es war höchste Zeit. Die Verkäuferin schöpfte schon aus schräg gehaltener Kanne und sagte, nun komme keine Milch mehr nach Berlin. Das heißt Kindertod.
    Gleich auf der Straße trank ich ein paar Schluck ab. Füllte mir daheim den Magen mit Griesbrei und schickte einen Brotkanten nach. Theoretisch bin ich so satt wie lange nicht. Praktisch quält mich tierischer Hunger. Vom Essen bin ich erst richtig hungrig geworden. Bestimmt gibt es dafür eine wissenschaftliche Erklärung. Etwa, daß Speise die Magensekretion anregt und die Säfte verdauungslustig macht. Und wenn diese dann richtig in Schwung kommen, ist der kleine Vorrat schon wegverdaut. Dann grollen die Säfte.
    Beim Kramen in den kümmerlichen Buchbeständen des Hausherrn (ich fand auch die leere Kladde dort, in die ich jetzt schreibe) klappte ich einen Roman auf. Englisches Adelsmilieu, darin etwa folgender Satz: »...warf einen flüchtigen Blick auf ihre unberührte Mahlzeit, erhob sich und ging...« Ich war schon zehn Zeilen weiter, als ich magnetisch angezogen zu dem obigen Satz zurückkehrte. Ich las ihn wohl ein dutzendmal und ertappte mich dabei, wie ich mit den Nägeln über die Buchstaben kratzte, als könnte ich die unberührte Mahlzeit – sie war vorher genau beschrieben worden – aus dem Schmöker herauskratzen. Verrückt sowas. Beginn eines leichten Hungerwahnsinns. Schade, daß ich darüber nicht in Hamsuns Roman Hunger nachlesen kann. Selbst wenn ich nicht verbombt wäre, besäße ich das Buch nicht mehr. Vor über zwei Jahren ist es mir in der U-Bahn aus der Einkaufstasche geklaut worden. Es war in eine Buchhülle aus Bast
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