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Eine Frau in Berlin

Eine Frau in Berlin

Titel: Eine Frau in Berlin
Autoren: Anonyma
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Schlaf unter einer fremd riechenden Wolldecke. Bis gegen Mitternacht Bomben nahebei fielen und wir wieder kellerwärts flüchteten. Elend lange Nachtstunden, bin zu müde, um jetzt hier unten weiterzuschreiben...
    Am nächsten Morgen gegen 10 Uhr in der Dachwohnung. Bis gegen 4 Uhr hatten wir im Keller ausgeharrt. Allein klomm ich aufwärts unters Dach, wärmte mir eine Rübensuppe auf dem müden Gas, schälte Kartoffeln, kochte mein letztes Ei, d.h., ich aß es fast flüssig, und sprengte mir dann den letzten Rest Kölnisch Wasser auf den Leib. Komisch, wie viele Dinge man jetzt zum letztenmal tut, das heißt zum letztenmal bis auf weiteres, auf unbegrenzte, sicherlich lange Zeit. Woher sollte mir ein neues Ei kommen? Woher Parfüm? Also führe ich mir diese Genüsse sehr bewußt, sehr andächtig zu Gemüte. Nachher kroch ich angezogen ins Bett, schlief auf Stottern bei unruhigen Träumen. Nun muß ich los, einkaufen...
    Wieder unterm Dach, 14 Uhr. Draußen Regengepladder, und keine Zeitung mehr. Trotzdem drängte sich das Volk pünktlich zu den aufgerufenen Zuteilungen, zu denen irgendwelche Zettel oder Extrablätter aufgefordert haben sollen. Wir haben jetzt eine Art Mundpost. Alles spricht sich herum.
    Wir bekommen Vorschüsse, wie es offiziell heißt, und zwar auf Fleisch, Wurst, Nährmittel, Zucker, Konserven und Kaffee-Ersatz. Ich faßte an einem Schlangenschwanz Posten, stand zwei Stunden im Regen und bekam schließlich 250 Gramm Grütze, 250 Gramm Haferflocken, 2 Pfund Zucker, 100 Gramm Kaffee-Ersatz und eine Büchse Kohlrabi. Noch fehlen Fleisch und Wurst und Bohnenkaffee. Beim Fleischer am Eckhaus Gewimmel, nach beiden Seiten endlose Schlange in Viererreihen, unter Güssen von Regen. Nee! In meiner Schlange knisterte es von Parolen: Köpenick sei bereits von den Unsrigen aufgegeben, Wünsdorf besetzt, die Russen stünden am Teltowkanal. »Davon« sprach übrigens wie auf Verabredung plötzlich keine einzige Frau mehr.
    Ich fühle mich nach solchen Schlangengesprächen, bei denen man unwillkürlich in Form und Inhalt seiner Rede hinabsteigt und sich in Massengefühlen badet, immer klebrig und zuwider. Und doch will ich keine Zäune dagegen setzen, will mich dem Massenmenschlichen hingeben, will es miterleben, will dran teilhaben. Zwiespalt zwischen der hochmütigen Vereinzelung, in der mein Privatleben für gewöhnlich abläuft, und dem Trieb, wie die anderen zu sein, zum Volk zu gehören, Geschichte zu erleiden.
    Was kann ich sonst tun? Ich muß es abwarten. Flak und Artillerie setzen die Akzente über unseren Tag. Manchmal wünsche ich, es wäre schon alles vorbei. Sonderbare Zeit. Man erlebt Geschichte aus erster Hand, Dinge, von denen später zu singen und zu sagen sein wird. Doch in der Nähe lösen sie sich in Bürden und Ängste auf. Geschichte ist sehr lästig.
    Morgen will ich Brennesseln suchen und Kohle heranschaffen. Vom Hunger trennen uns die neuen kleinen Vorräte. Mir machen sie Sorgen wie dem Reichen sein Geld. Sie könnten verbombt, gestohlen, von Mäusen gefressen, vom Feind geraubt werden. Schließlich verstaute ich den ganzen Krempel in einem weiteren Kellerkarton. Trotzdem kann ich meinen gesamten irdischen Besitz noch bequem treppab und treppauf tragen.
    Spätabends, bei Dämmerschein. Ich habe wieder einen Besuch bei Frau Golz gemacht. Ihr Mann saß bei ihr, in Mantel und Schal, da es kalt und stürmisch im Zimmer war. Beide stumm und bedrückt. Sie begreifen die Welt nicht mehr. Wir sprachen kaum. Draußen die ganze Zeit blechernes Geknatter. Zwischendurch Prallschläge der Flak, als würden zwischen Himmel und Erde gigantische Teppiche geklopft.
    Das Echo der Abschüsse fängt sich in den Höfen. Zum ersten Mal erfaßte ich das Wort »Kanonendonner«, das bisher so auf der Linie von »Löwenmut« und »Heldenbrust« für mich lag. Die Vokabel ist aber wirklich gut.
    Draußen Regenschauer und Stürme. In der Haustür sah ich vorüberziehenden Soldatenhaufen nach. Matt schleppten sie die Füße. Manche hinkten. Stumm, jeder für sich, so trotteten sie ohne Tritt dahin, stadtwärts. Die Gesichter stoppelig und eingefallen, auf dem Rücken schweres Gepäck.
    »Was ist los?« rufe ich hinüber. »Wo geht's hin?«
    Keiner antwortet. Einer murrt Unverständliches. Einer spricht deutlich vor sich hin: »Führer befiehl – wir folgen dir in den Tod.«
    All diese Gestalten sind so armselig, so gar keine Männer mehr. Man kann sie nur bemitleiden. Man erhofft oder erwartet auch gar nichts
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