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Eine Frau in Berlin

Eine Frau in Berlin

Titel: Eine Frau in Berlin
Autoren: Anonyma
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Der einbeinige Sohn dazu liegt – oder lag, man weiß ja nichts – in einem Breslauer Lazarett. Gnomenhaft im Sessel kauert der bucklige Doktor chem. von der Limonadenfirma. Dann Portiers, bestehend aus Mutter, zwei Töchtern und einem vaterlosen Enkelsohn. Und Erna und Henni aus dem Bäckerladen, die nicht mehr nach Hause fahren können und nun beim Meister wohnen. Der schwarzlockige Belgier Antoine, der den Bäckergesellen mimt und was mit der Henni hat. Die hinterlassene Wirtschafterin des Hauswirts, die allen Luftschutzvorschriften zum Trotz einen ältlichen Foxterrier im Arm hält. Ich selber: blasse Blondine, stets im selben zufällig geretteten Wintermantel; in einem Verlag angestellt, bis dieser vorige Woche seinen Laden schloß und den Angestellten »bis auf weiteres« freigab.
    Dazu noch der und jener ohne Farbe. Wir sind der Schamott, den weder Front noch Volkssturm haben wollten. Es fehlt der Bäckermeister, der als einziger im Hause die rote Fahrkarte III hat und damit auf sein Laubengrundstück gefahren ist, um sein Silber zu vergraben. Es fehlt Fräulein Behn, Postangestellte, unverehelicht und dreist, die eben hinaufgeflitzt ist, als gerade keine Bombe fiel, um das heutige Zeitungsblatt zu holen. Es fehlt eine Frau, die zur Zeit in Potsdam weilt, um dort sieben beim großen Angriff umgekommene Angehörige zu beerdigen. Es fehlt der Ingenieur vom dritten Stock mit Weib und Sohn. Er hat vorige Woche einen Lastkahn bestiegen, der ihn mitsamt seinen Möbeln sicher über den Mittellandkanal nach Braunschweig bringen soll, wohin sein Rüstungsbetrieb verlagert worden ist. Alle Kräfte drängen ins Zentrum. Dort muß ein gefährlicher Menschen-Überdruck entstehen. Falls nicht auch dort schon die Amis sind. Man weiß ja nichts mehr.
    Mitternacht. Kein Strom. Am Balken über mir blakt die Petroleumlampe. Draußen dickes Gebrumm, anschwellend. Der Tüchertick tritt in Tätigkeit. Ein jeder windet sich das bereitgehaltene Tuch um Nase und Mund. Ein gespenstischer Türkenharem, eine Galerie halbverhüllter Totenmasken. Nur die Augen leben.
    Samstag, 21. April 1945, 2 Uhr nachts
    Bomben, die Mauern schwankten. Meine Finger zittern noch am Füller. Ich bin naß wie nach schwerer Arbeit. Früher aß ich im Keller dicke Butterbrote. Seit ich ausgebombt bin und in der gleichen Nacht beim Bergen Verschütteter half, laboriere ich an meiner Todesangst. Es sind immer die gleichen Symptome. Zuerst Schweiß ums Haar, Bohren im Rückenmark, im Hals sticht es, der Gaumen dörrt aus, und das Herz klopft Synkopen. Die Augen stieren auf das Stuhlbein gegenüber und prägen sich seine gedrechselten Wulste und Knorpel ein. Jetzt beten können. Das Hirn krallt sich an Formeln, Satzfetzen: »Geh an der Welt vorüber, es ist nichts... Und keines fällt aus dieser Welt... Noli timere...« Bis die Welle sich verzieht.
    Wie auf Kommando brach fiebriges Schwatzen los. Alle lachten, überschrien einander, rissen Witze. Fräulein Behn trat mit dem Zeitungsblatt vor und las die Goebbelsrede zum Geburtstag des Führers (ein Datum, an das die meisten überhaupt nicht mehr gedacht hatten). Sie las mit ganz besonderer Betonung, mit einer neuen, spöttischen und bösen Stimme, die man hier unten noch nicht vernommen hat. »Goldenes Korn auf den Feldern... Menschen, die in Frieden leben...« Denkste, sagt der Berliner. Und »Schön wär's ja.« Schalmeientöne, die kein Ohr mehr finden.
    Drei Uhr nachts, der Keller duselt so dahin. Mehrfach kam Vorentwarnung, doch gleich hinterher wieder neuer Alarm. Keine Bomben. Ich schreibe, es tut gut, lenkt mich ab. Und Gerd soll es lesen, falls er wiederkommt – falls er überhaupt noch – Nein, ausgestrichen, man darf es nicht heraufbeschwören.
    Das junge Mädchen, das wie ein junger Mann aussieht, hat sich an mich herangepirscht und gefragt, was ich schreibe. Ich: »Es hat keinen Wert. Bloß privates Gekritzel, damit ich was zu tun habe.«
    Nach der ersten Welle kreuzte »Siegismund« auf, alter Herr aus der Nachbarschaft, den sie aus seinem eigenen Keller hinausgegrault haben, vermutlich, weil er immerzu vom Siege spricht, woraus auch sein Spitzname bei uns resultiert. Siegismund glaubt wirklich, daß die Rettung nahe und unser Sieg gewiß sei und daß »Jenner« (unsere neueste Bezeichnung für A. H.) genau wisse, was er tue. Während Siegismund also spricht, blicken sich die Stuhlnachbarn stumm und vielsagend an. Auf einen Disput mit ihm läßt sich keiner ein. Wer diskutiert schon mit
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