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Eine Frau in Berlin

Eine Frau in Berlin

Titel: Eine Frau in Berlin
Autoren: Anonyma
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verhängt, darunter Soldaten. Ich sah zum ersten Mal dreckige, graubärtige Typen, die richtigen Frontschweine, alle alt. Vor den Karren Panjepferdchen, dunkel vor Nässe. Die Ladung der Karren: Heu. Sieht nicht mehr nach motorisiertem Blitzkrieg aus.
    Auf dem Heimweg drang ich in Professor K.s verlassenen Garten ein, hinter der schwarzen Hausruine, pflückte Krokus und brach Flieder. Trug einen Teil davon zur Frau Golz, einer Mitbewohnerin aus meinem früheren Wohnhaus. Wir saßen einander am Kupfertisch gegenüber und plauderten. Das heißt, wir brüllten gegen die frisch einsetzende Schießerei an. Frau Golz, mit gebrochener Stimme: »Die Blumen, die wunderschönen Blumen...« Dabei liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Auch mir war scheußlich zumute. Schönheit tut jetzt weh. Man steckt so voll Tod.
    Hab mir heute früh überlegt, wieviel Tote ich schon gesehen habe. Der erste war Herr Schermann. Ich war damals fünf, er siebzig, silberweiß auf weißer Seide, Kerzen zu Häupten, bedeutsam und erhöht. Also war der Tod feierlich und schön. Bis ich 1928 von Hilde und Kate P. ihren tags zuvor verstorbenen Bruder Hans gezeigt bekam. Wie ein Lappenbündel lag er auf dem Sofa, das Kinn mit einem blauen Tuch hochgebunden, die Knie krumm – ein Dreck, ein Garnichts. Später tote Verwandte, blaue Fingernägel zwischen Blumen und Rosenkränzen. Dann in Paris der Überfahrene im Blutbrei. Und der Erfrorene an der Moskwa...
    Tote, ja, aber das Sterben selbst sah ich noch nie. Dies Erleben wird mir nun wohl bald zuteil werden. Daß es mich selber erwischen könnte, glaub ich nicht. Bin schon so oft dem Tod von der Schippe gerutscht und fühle mich aufgespart. Es wird dies ein Gefühl sein, das in den meisten Menschen lebt. Wie könnten sie sonst inmitten von so viel Tod so aufgekratzt sein? Fest steht, daß die Bedrohung des Lebens die Lebenskräfte steigert. Ich brenne heftiger und mit größerer Flamme als vor dem Bombenkrieg. Jeder neue Lebenstag ist ein Triumphtag. Man hat es wieder mal überlebt. Man trotzt. Man richtet sich gleichsam höher auf und steht fester auf der Erde. Damals, als wir das erste Mal von Bomben durchgeblasen waren, hab ich mir an die Zimmerwand mit Bleistift ein Stück Latein angeschrieben, das ich noch zusammenbrachte:
     
     
    Si fractus illabatur orbis,
    Impavidum ferient rumae.
     
    Damals konnte man noch ins Ausland schreiben. Ich hab in einem Brief an meine Freunde D. in Stockholm kraftprotzend und wohl auch, um mich selber zu stärken, den obigen Vers zitiert und von der Intensität unseres bedrohten Daseins geschrieben. Ich hatte dabei ein leicht itleidiges Gefühl, als ob ich, nun erwachsen und an den Kern des Lebens zugelassen, mit unschuldigen Kindlein spräche, die es zu schonen galt.
    Sonntag, 22. April 1945, 1 Uhr nachts
    Ich lag oben auf dem Bett, es wehte durch die zerbrochenen Scheiben, ich döste so vor mich hin, an den Füßen einen Ziegelstein, in Stunden auf winzigen Gasflämmchen heiß gemacht. Gegen 20 Uhr klopfte Frau Lehmann: »Kommen Sie herunter, es gibt jetzt keinen Alarm mehr und keine Sirenen. Die anderen sind schon alle unten.«
    Halsbrecherischer Treppenabstieg. Ich blieb einmal mit dem Absatz an einer Stufenkante hängen. Todesschreck, konnte mich eben noch am Geländer fangen. Weiter, mit weichen Knien. Ich suchte und tastete lange und herzklopfend in dem stockfinsteren Gang herum, bis ich die Hebel der Kellertür fand.
    Drinnen ein neues Bild. Wer eben kam, hat sich ein Bett aufgeschlagen. Überall Kissen, Deckbetten, Liegestühle. Mühsam würge ich mich zu meinem Sitzplatz durch. Das Radio ist tot, es gibt keine Funkzeichen vom Flughafen mehr. Matt blinzelt die Petroleumlampe. Etliche Bomben fallen, dann ist Ruhe. Siegismund erscheint, hält immer noch die Fahne hoch. Gardinenschmidt murmelt was von Bernau und Zossen, wo nun die Russen stehen sollen: Siegismund verkündet dagegen die nahe Wende. Wir hocken, die Stunden schleichen dahin, Artillerie bollert, mal ferner, mal nah. »Gehen Sie nicht mehr in Ihren vierten Stock«, ermahnt mich die Apothekerswitwe. Und sie bietet mir ein Nachtlager in ihrer Wohnung in der ersten Etage an. Wir klimmen aufwärts auf der hinteren Wendeltreppe. (Früher mal »Aufgang für Dienstboten und Lieferanten«.) Die Treppe ist eine enge Spindel. Es knirscht von Glassplittern unter meinen Füßen, es pfeift durch die offenen Luken. Eine Couch nimmt mich auf, vorn in der Kammer gleich neben der Küche, gönnt mir zwei Stunden
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