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Eine Frau in Berlin

Eine Frau in Berlin

Titel: Eine Frau in Berlin
Autoren: Anonyma
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ich eine Liegestatt nehmen?) und torkelte die glasbestreute Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock, wo ich auf der Couch bei der Apothekerswitwe schlief, bis gegen 6 Uhr. Ich hörte verwundert, daß zwischendurch eine Bombenserie gefallen sei. Hab sie glatt überschlafen.
    Beim Bäcker gab es Brötchen, die letzten. Es waren auch meine letzten Brotmarken. Neue Lebensmittelkarten sind nicht in Sicht. Überhaupt kein Befehl mehr, keine Nachrichten, nichts. Es kümmert sich kein Schwein mehr um uns. Wir sind plötzlich Individuen, keine Volksgenossen mehr. Alle alten Bindungen zwischen Freunden und Kollegen sind tot, soweit Entfernungen zwischen ihnen liegen, die mehr als drei Häuser weit sind. Der Höhlenhaufen, die Familie, wie in Urzeiten. Der Horizont reicht hundert Schritte weit.
    Beim Bäcker hieß es, die Russen stünden nun bei Weißensee und Rangsdorf. Im Rangsdorfer Strandbad hab ich oft gebadet. Ich spreche es versuchsweise laut vor mich hin: »Die Russen in Rangsdorf.« Es will nicht zusammenklingen. Im Osten heute feurig roter Himmel, endlose Brände.
    Von Kohlenbesorgung zurück, 13 Uhr. In Richtung Süden marschierte ich spürbar auf die Front zu. Der S-Bahn-Tunnel ist schon gesperrt. Leute, die davor standen, sagten, daß am anderen Ende ein Soldat aufgehängt sei, in Unterhosen, ein Schild »Verräter« um den Hals. Er hängt so tief, daß man ihn an den Beinen drehen kann. Das erzählt jemand, der es selbst gesehen und die Bengels weggejagt hat, die sich mit Drehen belustigten.
    Wüst sieht die Berliner Straße aus, halb aufgerissen und von Barrikaden versperrt. Vor den Läden Schlangen.
    Stumpfe Gesichter im Flaklärm. Lastwagen rollten in Richtung Stadt. Verdreckte, erdbespritzte Gestalten mit leeren Mienen, in lumpigen Verbänden, trotteten dazwischen. Ein Troßzug von Heuwagen, auf den Böcken Grauköpfe. An der Barrikade hält Volkssturm Wacht in bunt zusammengestoppelten Uniformen. Man sieht dort blutjunge Kinder, Milchgesichter unter viel zu großen Stahlhelmen, hört mit Schrecken ihre hellen Stimmen. Die können höchstens fünfzehn sein, hängen so schmal und winzig in den schlotternden Uniformjacken.
    Warum sträubt sich das Gefühl so sehr gegen diesen Kindermord? Sind die Kinder erst drei, vier Jahre älter, so erscheint uns ihr Erschossen- und Zerrissenwerden doch ganz natürlich. Wo ist da die Grenze? Etwa beim Stimmbruch? Denn mich quälen in der Erinnerung wirklich am meisten die hohen, hellen Stimmen dieser Würmer. Soldat und Mann waren bisher identisch. Und ein Mann ist ein Zeuger. Daß diese Knaben schon vergeudet werden, bevor sie reif sind, muß wohl gegen ein Naturgesetz verstoßen, es ist triebwidrig, gegen jeden Trieb der Arterhaltung gerichtet. Wie gewisse Fische oder Insekten, die ihren Nachwuchs auffressen. Das darf nicht sein unter Menschen. Und daß es doch so ist, ist ein Wahnsinnssymptom.
    Im Verlagshaus, nun von allen Angestellten verlassen, lagen die Keller noch voll Kohle. Die eingewiesene ausgebombte Frau im Kellergeschoß überschüttete mich mit Fragen, was nun werden solle. Es scheint, daß ihre Älteste, Mutter eines Achtwochenkindes, seit gestern keine Milch mehr hat. Plötzlich kann sie nicht mehr nähren, und das Kleine brüllt. Nun sorgen sich alle, wie sie, da es ja keine Kuhmilch mehr gibt, das Kind durchbringen sollen. Ich schlug der jungen Mutter vor, es mal mit Wildgemüse zu versuchen. Vielleicht schießt dann die Milch wieder bei ihr ein. Zusammen bückten wir uns im regenfeuchten Gras des Gartens und rissen, Taschentücher als Schutz in den Händen, die jungen Brennesseltriebe an der Mauer ab. Dazu Löwenzahn, soweit vorhanden. Kräuterduft und Erdgeruch, Primelsterne, rotblühender Dorn, Frühling. Aber die Flak bellt.
    Ich faßte einen Rucksack Steinkohle, schleppte wohl einen halben Zentner ab. Trotzdem überholte ich auf dem Rückweg noch einen Trupp Soldaten. Sah zum ersten Mal in all diesen Tagen wieder Waffen: zwei Panzerfäuste, eine MP, Munitionskästen. Junge Kerle trugen die Geschoßgurte wie einen Barbarenschmuck.
    Gegen Mittag hat es in unserer Straße ein Begräbnis gegeben, ich hab es vom Hörensagen, die Apothekerswitwe war dabei. Eine Siebzehnjährige, Granatsplitter, Bein ab, verblutet. Die Eltern haben das Mädchen in ihrem Hausgarten hinter Johannisbeersträuchern begraben. Als Sarg haben sie ihren Besenschrank genommen.
    Auch die Freiheit haben wir nun, unsere Toten zu betten, wo es uns beliebt, wie in Urzeiten. Ich muß daran
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