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Eine Frau in Berlin

Eine Frau in Berlin

Titel: Eine Frau in Berlin
Autoren: Anonyma
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Verrückten? Außerdem sind Verrückte manchmal gefährlich. Nur die Portiersfrau stimmt heftig zu und verkündet durch ihre beiden Zahnhauer hindurch, daß auf »Jenner« sowie auf den alten Herrgott Verlaß sei.
    Neun Uhr früh, in der Dachwohnung. (Alle meine Zeitangaben sind über den Daumen gepeilt; soweit kein Blick auf Uhren möglich, lebe ich zeitlos.) Grauer Morgen, der Regen pladdert. Ich schreibe auf der Fensterbank, die mein Stehpult ist. Kurz nach drei kam die Entwarnung. Ich zog Kleid und Schuhe aus und fiel ins Bett, das ständig aufgeschlagen ist. Fünf Stunden Tiefschlaf. Das Gas streikt.
    Hab soeben mein Bargeld gezählt, 452 Mark, weiß nicht, was ich mit so viel soll, da die wenigen Einkäufe, die uns noch möglich sind, mit Pfennigen bestritten werden können. Dazu mein Konto auf der Bank, auf dem schätzungsweise tausend mangels Waren nicht ausgegebener Mark stehen. (Als ich im ersten Kriegsjahr das Konto anlegte, gedachte ich noch für den Frieden und für eine Reise um die Welt zu sparen. Lang, lang ist das her.) Manche Leute rennen dieser Tage zu den Banken, soweit sie noch in Betrieb sind, und heben das Ihre ab. Wozu eigentlich? Wenn wir absausen, ist auch die Mark im Eimer. Geld, d.h. Papiergeld, ist ja nur eine Fiktion und stellt keinen Wert mehr dar, wenn die Zentrale ausfällt. Ich blättere ohne jedes Gefühl in dem Geldbündel. Mir ist, als könnte das Zeug allenfalls noch als Andenken gelten. Als Bildchen aus versunkenen Zeiten. Ich nehme an, daß die Sieger ihr eigenes Geld mitbringen und uns damit ausstaffieren werden. Oder daß irgendein Militärgeld gedruckt wird – falls man uns überhaupt wieder so weit kommen läßt und uns nicht zur Arbeit für einen Schlag Suppe verdammt.
    Mittags. Unendlicher Regen. Bin zu Fuß in die Parkstraße marschiert und habe mir zu meinen »Papierbildchen« noch einen Packen hinzugeholt. Der Prokurist zahlte mir den letzten Monatslohn und erteilte mir »Urlaub«. Der ganze Verlag hat sich in Luft aufgelöst. Und das Arbeitsamt hat ausgepustet, niemand macht dort mehr Jagd auf frei werdende Arbeitskräfte; insofern sind wir jetzt alle unsere eigenen Herrn.
    Die Bürokratie erscheint mir als eine Schönwettersache. Jedenfalls lösen sich alle Ämter auf, sobald es Granatsplitter regnet. (Übrigens jetzt sehr ruhig. Beängstigende Stille.) Wir werden nicht mehr regiert. Und doch stellt sich von selbst immer wieder eine Art von Ordnung her, überall, in jedem Keller. Ich habe bei meiner Ausbombung erlebt, wie selbst die Verschütteten, die Verletzten, die Verstörten in guter Ordnung vom Schauplatz verschwanden. Auch hier im Hauskeller haben die ordnenden, anordnenden Geister Autorität. Es muß im Menschen drinstecken. Schon zur Steinzeit muß die Menschheit so funktioniert haben. Herdentiere, Instinkt der Arterhaltung. Bei den Tieren sollen es ja immer die männlichen sein, die Leitbullen und die Leithengste. In diesem Keller kann man eher von Leitstuten reden. Fräulein Behn ist so eine; auch die sehr ruhige Hamburgerin. Ich bin keine, war es auch in meinem alten Keller nicht, wo allerdings ein mächtig herumbrüllender Leitbulle das Feld beherrschte, ein Major a.D., der nicht Mann noch Weib neben sich aufkommen ließ. Mir war das erzwungene Beisammenhocken im Keller stets zuwider, hab mich immer abgesondert, mir einen Schlafwinkel gesucht. Aber wenn das Leittier ruft, folge ich willig.
    Unterwegs bin ich neben der Straßenbahn hergelaufen. Einsteigen durfte ich nicht, da ich keinen Ausweis III habe. Dabei fuhr die Bahn fast leer, ich zählte acht Menschen im Wagen. Und Hunderte liefen im strömenden Regen nebenher, obwohl die Bahn, die ja doch fahren muß, sie gut und gern hätte mitnehmen können. Aber nein – siehe Ordnungsprinzip. Es steckt tief in uns drin, wir parieren.
    Hab im Bäckerladen Brötchen gekauft. Noch sind die Borde scheinbar voll, man sieht keine Kaufangst. Ging hinterher zur Kartenstelle. Heute war mein Buchstabe für die Abstempelung der Kartoffelabschnitte 75 bis 77 dran. Es ging überraschend schnell, obwohl statt der sonst so vielen nur noch zwei Kartendamen Dienst taten. Sie schauten gar nicht hin, stempelten die Abschnitte mechanisch wie Maschinen. Wozu eigentlich diese Stempelei? Keiner weiß es, doch alle gehen hin, nehmen an, daß es schon irgendeinen Sinn hat. Laut Aushang sollen am 28. April die Buchstaben X bis Z den Schluß machen.
    Durch den Regen zockelten Karren in Richtung der Stadt, mit pitschnassen Planen
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