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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit
Autoren: Georg Sander
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den Aufzug zum sechsten Stock, wo üblicherweise die Pressekonferenzen stattfanden. Der Besprechungsraum war mit grauem Linoleum ausgelegt und wurde fast vollständig von einem dunklen Konferenztisch mit abgestoßenen Kanten eingenommen, um den sich ein gutes Dutzend Stühle verteilte. Es roch leicht säuerlich nach altem Kaffee, billigem Reinigungsmittel und etwas Undefinierbarem. Velten stellte bei jedem Besuch in einer Behörde fest, dass der öffentliche Dienst es offenbar nicht für notwendig erachtete, seinen Mitarbeitern halbwegs erträgliche Arbeitsbedingungen zu bieten. Ob Polizei, Rathaus oder Kreisverwaltung – überall standen die gleichen schäbigen Möbel in den gleichen tristen Büros.
    Vom Besprechungsraum der Polizei bot sich immerhin ein großartiger Blick über das Zentrum Waldenthals. Die Stadt war, wie die Gästeführer der Tourist-Information den wenigen Besuchern bei jeder Gelegenheit erklärten, wie Rom auf sieben Hügeln erbaut worden. Drei dieser Erhebungen waren vom Polizeigebäude aus gut zu sehen. In einem alten Imageprospekt aus der Blütezeit der Stadt war ernsthaft die Rede davon, dass Waldenthal in topographischer Hinsicht das „Rom des Nordens“ sei. Auf die Idee, die italienische Hauptstadt als das „Waldenthal des Südens“ zu bezeichnen, war in Italien allerdings noch niemand gekommen.
    In dem stickigen Raum hatten sich bereits Vertreter aller lokalen Medien eingefunden. Neben Hörfunkreportern des öffentlichen und privaten Radios waren ein Kamerateam des Landesfernsehens und ein Redakteur des örtlichen Anzeigenblattes anwesend. Am Kopfende des langen Tischs saß außerdem Heiner Wagner, der Fotograf des Morgenkurier . Velten nickte ihm zu.
    In der überschaubaren Presselandschaft Waldenthals kannte man sich untereinander, und so fiel ein neues Gesicht sofort auf. Neugierig wurde die unbekannte Kurier -Mitarbeiterin gemustert. „Darf ich vorstellen: Katja Marcks, Volontärin beim Waldenthaler Morgenkurier “, führte Velten seine Kollegin in die Medienszene ein. „Frau Marcks, Sie sehen die versammelte Pressemeute unserer Stadt.“ Es folgte allgemeines Händeschütteln.
    Die Neue wäre von den Journalistenkollegen sicher ausgiebiger begutachtet worden, doch jetzt betraten Polizeipräsidentin Räder, Susanne Staller und Walter Pabst, der farblose Pressesprecher, den Raum. Ihnen folgte ein sportlicher Mann mit militärischem Kurzhaarschnitt. Velten kramte in seinem Gedächtnis und nach ein paar Sekunden fiel ihm ein, woher er ihn kannte. Es war Philip Germann, ein aufstrebender junger Staatsanwalt, den er mehrfach in den Nachrichten des Landesfernsehens gesehen hatte. Die Beamten setzten sich an die Stirnseite des Tisches. An der Wand hinter ihnen prangte ein Fototapete des Pfälzerwaldes, über den ein Vogelschwarm in perfekter V-Formation hinwegflog.
    Barbara Räder war eine energisch wirkende Frau in den Fünfzigen. Sie leitete seit einigen Jahren das Präsidium in Kaiserslautern, das für die gesamte Westpfalz zuständig war. Velten hatte keine allzu hohe Meinung von ihr, obwohl er es anfangs sehr begrüßt hatte, dass erstmals eine Frau an der Spitze der Polizei stand. Für seinen Geschmack glänzte sie zu sehr durch ihre schwungvollen Tanzeinlagen bei gesellschaftlichen Ereignissen wie dem festlichen Neujahrsempfang der Wirtschaftskammer oder mit launigen Reden bei der Kappensitzung Rosenmontag. Nüchterne Polizeiarbeit schien sie dagegen zu langweilen. Er hatte bereits mehrfach kritisch über Räder berichtet, was sie ihm nachhaltig übel nahm.
    Velten nahm neben seiner Kollegin Platz und kramte Block und Kugelschreiber aus seiner Jackentasche. Marcks fischte einen Tablet Computer aus ihrer Umhängetasche, platzierte ihn vor sich auf dem Tisch und schaltete ihn ein. Mit einem Piepen fuhr der Rechner hoch.
    Edda Sahm, die voluminöse Redakteurin von Radio Waldenthal , die den beiden gegenüber saß, lachte gackernd: „Irgendwie siehst du jetzt mit deinem Kuli ganz schön alt aus, Velten“ rief sie. „Vergangenheit und Zukunft des Waldenthaler Morgenkurier einträchtig nebeneinander. Heiner, das musst du fotografieren.“
    Alle im Raum brachen in Gelächter aus und sogar die Polizeipräsidentin konnte sich ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen. Staatsanwalt Germann berührte Susanne am Arm, flüsterte ihr etwas ins Ohr und beide kicherten. Velten überschüttete die schrille Radioreporterin, die er genauso unausstehlich fand wie den werbefinanzierten
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