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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit
Autoren: Alex Capus
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von bitterer Reue und umso stärkerer Sehnsucht nach der großen, erhabenen Tat.
    Aber davon wussten seine Vorgesetzten nichts. Sie sahen nur den tätowierten Prahlhans, und so verliefen Spicers Bemühungen alle im Sande und wurde er bei jeder Beförderungsrunde immer wieder aufs Neue übergangen. Spicer erklärte sich diese anhaltenden Misserfolge mit Willkür und Vetternwirtschaft seiner Vorgesetzten, ließ dabei aber außer acht, dass ihm in seiner bald zwanzigjährigen Marinelaufbahn tatsächlich einige ziemlich schlimme Missgeschicke unterlaufen waren. Während der Kanalmanöver 1905 beispielsweise hatte er die Idee zur Ausführung gebracht, zwischen zwei Zerstörern ein Stahlseil zu spannen und so nach U-Booten zu fischen, worauf sich tatsächlich ein Periskop im Seil verfing und das dazugehörende U-Boot – ein britisches, kein feindliches – beinahe gesunken wäre. Ein anderes Mal wollte er während eines Manövers die Wehrhaftigkeit der Verteidigungsanlagen im Hafen von Portsmouth testen und lief mit seinem Schiff am Strand auf. Dafür musste er sich ein erstes Mal vor dem Militärgericht verantworten; ein zweites Mal wurde er gemaßregelt, als er mit seinem Zerstörer ein Landungsboot rammte und mehrere Matrosen ums Leben kamen. Es glich deshalb eher einer Verbannung als einer Beförderung, als er 1911 mit dem Titel eines Director of Hydrographic Survey nach Gambia geschickt wurde. Dies umso mehr, als von Anfang an klar war, dass seine kartographischen Messungen niemals von wirtschaftlichem oder militärischem Nutzen sein würden; der Gambia-Fluss führte vom Atlantischen Ozean durch die Mangrovensümpfe direkt in die unwirtlichen Wüsten des Sahel, in die sich kaum je ein Europäer verirrte. Auf dem Fluss verkehrten außer den Eingeborenen lediglich ein paar Kautschukdampfer, und auch die blieben seit der Kautschuk-Krise aus. Spicer ertrug die Sinnlosigkeit seiner Arbeit mit soldatischer Disziplin, tuckerte jeweils zwanzig oder dreißig Tage über den Fluss und ruhte sich dann eine Woche lang in Banjul im Bungalow seiner Frau aus, immer in der Hoffnung, dass irgendwann die dienstliche Abberufung nach London eintreffen möge.
     

 
    2
    Bitterer Honig
     
     
     
    Als Anton Rüter in Daressalam eintraf, machte ihm von allen Naturerscheinungen Deutsch-Ostafrikas nur eine einzige wirklich Eindruck: Das war die Frau des Gouverneurs. Er versuchte seine Enttäuschung zu verbergen, aber es ließ sich nicht leugnen: Bisher war die Reise unspektakulär, um nicht zu sagen langweilig verlaufen. Die Eisenbahnfahrt von Papenburg nach Marseille in überheizten Zügen mit beschlagenen Fenstern war eine Qual gewesen, ebenso die Durchquerung des winterlich trüben Mittelmeers mit dem Reichspostdampfer Feldmarschall, in dessen Laderaum sich die ersten neunhundertachtzig Seekisten mit Bauteilen der Götzen stapelten. Es waren nur wenige Passagiere an Bord, und weil es ohne Unterlass regnete und das Schiff heftig stampfte und schlingerte, verkrochen sich alle in ihre Kabinen. In Port Said legte die Feldmarschall einen Kohlestopp ein, und mitten im Suezkanal wich von einer Stunde auf die andere die winterliche Kälte tropischer Hitze. Im Roten Meer leisteten Delphine dem Schiff Gesellschaft und sorgten mit ihren Kapriolen für Unterhaltung, und gelegentlich ahnte man den schwarzen Schatten einer Wasserschildkröte, die pfeilschnell vor den Schiffsmotoren floh. Hin und wieder setzte der Regen aus. Dann lagen die Papenburger auf dem Sonnendeck in ihren Liegestühlen und betrachteten das ölige, träge Meer und die gleichförmige Düsternis der afrikanischen Küste.
    Als das Schiff am 10. Januar 1914 die Gewürzinsel Sansibar hinter sich ließ und endlich westwärts Kurs auf das Festland nahm, vorbei an Bagamoyo, der alten arabischen Hafenstadt, dem Ziel zahlloser Sklaven-und Elfenbeinkarawanen aus den tiefsten Tiefen Afrikas, auf deren Marktplatz sich in früheren Zeiten Massai-, Suaheli-und Bantukönige mit arabischen Kaufleuten aus Dschidda, Schiffbauern aus Kuwait, Stoff-und Gewürzhändlern aus Bombay und Piraten aus Schanghai getroffen hatten – als die Feldmarschall also fünfhundert Seemeilen südlich des Äquators glücklich die Lücke im Riff fand und in die Bucht von Dar Es Saalam einfuhr – da war auch das eine Enttäuschung. Was Anton Rüter sah, war ein schmaler Streifen nassen Sandstrandes, der sich in weitem Bogen um die Bucht erstreckte, gesäumt von einer langen Reihe grauer Kokospalmenstämme, hinter denen
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