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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit
Autoren: Alex Capus
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wird, oder dass einen eine Schlange beißt, so was ist lästig. Aber machen kann man nicht sehr viel dagegen, also lohnt es sich nicht, darüber nachzudenken. Wenn er heimkommt, wird er mit dem Geld ein Haus bauen, heiraten und Kinder haben. Das Grundstück hat er schon ausgewählt. Es liegt weitab vom Städtchen im Wilden Moor. Ziemlich weitab am Splittigekanal, das stimmt schon, Elektrizität gibt es dort draußen noch keine. Dafür ist es billig. Der Strom wird dann schon kommen, die Stadt wächst rasch. Welche Frau er heiraten wird, weiß er noch nicht.
    Am rechten Bildrand steht Nieter Rudolf Teilmann, mit vierundvierzig Jahren beinahe doppelt so alt wie der junge Wendt, verheiratet und Vater von vier halbwüchsigen Kindern. Sein Haar ist schütter, die Wangen sind hohl, der Blick geht skeptisch zur Seite. Er ist einer, der sonntags gern zur Jagd geht, in aller Frühe mit dem Gewehr allein hinaus ins Moor. Dass er viel geschossen hätte über die Jahre, kann man nicht sagen. Alle paar Monate der Form halber ein Moorhuhn vielleicht, oder ein Karnickel. Meist sitzt er nur einfach so an diesem oder jenem verschwiegenen Plätzchen auf einem Baumstrunk, das Gewehr, das womöglich nicht mal geladen ist, quer über den Schoß gelegt. Dann raucht er Zigaretten, kratzt sich gedankenvoll am Hals und betrachtet den Wandel der Jahreszeiten. Er hat sich nun wirklich nicht vorgedrängt, als der Chef einen Nieter für die Expedition suchte. Da gab’s sieben oder acht Kollegen, die wollten unbedingt fahren, wegen des Geldes. Gedrängelt haben sie wie die Schulbuben auf der Kirmes und großmäulige Reden gehalten, sind mit geschwollenem Kamm heimstolziert und haben vor ihren versammelten Familien den Anbruch herrlicher Zeiten verkündet; aber dann strömte ihnen über Nacht das Blut in den Gehirnkasten zurück und kam ihnen dieser oder jener Gedanke, und am folgenden Morgen haben sie sich kleinlaut in der Kesselschmiede verkrochen, sich an ihren Glühöfen und elektrischen Laufkränen zu schaffen gemacht und von Afrika nichts mehr hören wollen. Als dann der Chef in seiner Not den Tellmann ins Büro rief und ihm die Dienstreise händeringend antrug, brachte der es nicht über sich, rundheraus Nein zu sagen. Also rechnete er abends mit der Frau alles nochmal durch. Die Hypothek fürs Haus wäre man auf einen Schlag los. Die Aussteuer für die Älteste, die Schulbücher für die Kleinen, das Lehrjahr für den Großen in Bremen. Hinten raus in den Garten könnte man ein Zimmer anbauen für die Schwiegermutter, die ist in letzter Zeit ein bisschen alt und wunderlich geworden in ihrem windschiefen Fachwerkhäuschen draußen im Obermoor; das wird allmählich gefährlich. Kürzlich hat sie sich auf dem Heimweg nach dem Einkaufen verirrt, man musste sie suchen und fand sie lang nach Einbruch der Nacht an einer Böschung im Krummen Meer, weinend wie ein Kind, mit schmutzigen Röcken und zerrissenen Strümpfen. Entweder man baut ein Zimmer an, oder sie muss ins Altenheim. Geld kostet beides. Und was ist schon so ein Jährchen, das geht rasch vorbei. Je älter man wird, desto rascher. Und was die Jagd betrifft, soll Afrika nicht übel sein.
    Als zum Abschluss der Zeremonie der Pfarrer das Schiff einsegnete und sämtliche anwesenden Papenburger niederknieten und die Hände zum Gebet falteten, warfen Wendt, Rüter und Tellmann einander ironische Blicke unter gerunzelten Stirnen zu, wackelten unschlüssig mit den Köpfen und scharrten mit den Füßen. Alle drei neigten nämlich, wie das unter Katholiken üblich ist, mehr oder weniger offen zum Atheismus im Vertrauen darauf, dass ihr milder und verzeihender Gott, falls es ihn letztlich eben doch geben sollte, ihnen am Jüngsten Tag die Leugnerei schon nachsehen werde; und falls Er wider Erwarten seine Barmherzigkeit verweigern sollte, würde es eben die Jungfrau Maria voll der Gnade richten.
    Wenn Rüter, Tellmann und Wendt trotzdem niederknieten, geschah dies aus Höflichkeit gegenüber dem Pfarrer sowie aus Rücksichtnahme auf die religiösen Gefühle des Nebenmannes; konnte man denn wissen, ob der nicht vielleicht heimlich doch fromm war, trotz seiner ketzerischen Reden? Freilich war allen dreien bewusst, dass sie beim Niederknien streng genommen falsches Zeugnis ablegten. Aber auch diese Sünde würde Gott, wenn es ihn denn gab, ihnen nicht ewig krumm nehmen. Und sowieso war das alles im Augenblick egal. Wichtig war jetzt die Schiffstaufe. Wichtig war nicht, ob Rüter, Wendt und Tellmann
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