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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit
Autoren: Alex Capus
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Automobil vorfahren; das Kolonialamt hatte verlangt, das Schiff unter Dampf stehend inspizieren zu können, bevor es in seine Einzelteile zerlegt wurde. Unter dem Dröhnen der Fabriksirene strömten die Angestellten aus den rußgeschwärzten Backsteinbauten heraus zur Helling, aus der Gießerei, der Maschinenfabrik, der Kesselschmiede, der Kupferschmiede und der Tischlerei. Sogar die Buchhalter und die Sekretärinnen vom Bürogebäude eilten herbei und die Fuhrleute und die Pferdeknechte aus den Stallungen. Manche suchten zu viert oder fünft hinter einem Bretterstapel Schutz vor der eisigen Nordseebrise, andere lehnten an verwitterten Scheunenwänden oder machten es sich auf behelfsmäßigen Sitzbänken oder auf Holzkisten bequem. Sie schlugen die Kragen hoch und steckten sich Zigaretten an, bohrten die Fäuste in die Hosentaschen und beobachteten die Möwen, die unter niedrig grauem Himmel im Wind spielten.
    Rüter stieg übers Fallreep hinunter auf das Kopfsteinpflaster. Er vergewisserte sich, dass alle Pallen sauber verkeilt und die Trossen gespannt waren, und in letzter Sekunde versteckte er noch rasch einen Besen, der am Rumpf der Götzen lehnte, hinter einem Bretterstapel. Pünktlich um halb elf Uhr beschrieb Meyers schwarze Benz-Limousine einen weiten Bogen über den Platz, bahnte sich einen Weg durch die versammelte Belegschaft und kam neben dem Fallreep zum Stillstand. Rüter erwog einen Augenblick, hinzuzueilen und die Beifahrertür aufzureißen, hinter der er seinen Dienstherrn ausgemacht hatte, beschloss dann aber, das Türenaufreißen dem Chauffeur zu überlassen und die Berliner Beamten, die in Zylinder, Frack und mit Gehstock aus dem Fonds des Wagens stiegen, in respektvollem, aber selbstbewusstem Abstand zu erwarten. Er beobachtete, wie die Herren die Götzen einer ersten Musterung unterzogen, und schloss aus ihren haltlos schweifenden Blicken, dass sie von Schiffbau keine Ahnung hatten. Er straffte die Schultern in der Erwartung, ihnen gleich vorgestellt zu werden; aber dann schritten sie an ihm vorbei, als wäre er ein Sägebock oder eine Zimmerpalme, und der Chef nickte ihm nur zu und tätschelte ihm im Vorbeigehen leichthin die Schulter. Rüter atmete aus, trat einen Schritt beiseite und beobachtete, wie die Männer das Fallreep hinaufstiegen. Kaum waren sie hinter der Reling verschwunden, gab die Götzen Laut. Erst dröhnte das Signalhorn zum Beweis, dass es funktionierte. Dann rasselten die Ankerketten, erhöhten die Dampfmaschinen fauchend und zischend den Dampfdruck, dass Rüter besorgt die Brauen hob. Die Lichter gingen an und aus, dann drehten sich die zwei Dampfladewinden und gehorchte das Ruderblatt am Heck den Befehlen der Dampfrudermaschine. Die Herren tauchten am Bug auf und warfen prüfende Blicke nach links und rechts, dann erschienen sie am Brückendeck, betätigten hier einen Hebel, kippten da einen Schalter und fuhren dort mit dem Finger über messingblitzende Armaturen, und dann beugten sie sich übers Heck, um einen Blick auf die sachte rotierenden, golden glänzenden Schiffsschrauben zu werfen.
    Anton Rüter bewunderte die vornehme Gelassenheit, mit der Werfteigner Joseph Lambert Meyer seine Gäste dirigierte, und die aristokratisch zurückhaltende Vertraulichkeit, mit der er ihnen technische Auskünfte erteilte. Es war dieselbe befehlsgewohnte Sanftheit, mit der er auch seine Arbeiter führte, und gegen die sie alle wehrlos waren.
    Rüter kannte den alten Meyer länger als irgendeinen Menschen sonst auf der Welt. Im ersten Drittel seines Lebens war er Kind gewesen, die übrige Zeit Arbeiter in der Meyer Werft. Aufgewachsen als Waise bei einem Onkel, der draußen im Moor Torf stach, hatte er schon als Zehnjähriger während der Schulferien Geld verdient in der Meyerschen Tischlerei, in der Schmiede und in der Gießerei. Seither waren zwanzig Jahre vergangen, und Rüter hatte bei Meyer jedes Handwerk, das im Schiffbau zur Anwendung kam, gründlich gelernt. Zwar hatte er nur sechs Jahre die Grundschule besucht, und ein Ingenieurstudium war nie in Frage gekommen; aber wenn es hätte sein müssen und man ihm genügend Zeit gelassen hätte, wäre er imstande gewesen, ein Schiff wie die Götzen ganz allein zu bauen. Er konnte Pläne lesen und zeichnen, er konnte den Zeitaufwand für diese oder jene Arbeit schätzen, Kosten berechnen, effiziente Abläufe festlegen und Risiken abwägen – und die Meyer Werft kannte er besser als der alte Meyer selbst. Er wusste, welchen
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