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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit
Autoren: Alex Capus
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Banjul in Gambia, wo er seine Ehefrau Amy in einem Pavillon im Gouvernements viertel unterbrachte und sich dann aufmachte, im Auftrag der britischen Handels-und Kriegsmarine den Lauf des Gambia-Flusses zu kartographieren. Seither sind fast tausend Tage vergangen, und Spicer dümpelt noch immer über den brackigen Fluss, und seine Truppe besteht nicht aus dreihundert Navy-Soldaten, sondern aus vier schlaksigen, in Lumpen gehüllten Negerjungs, die ständig albern lachen und in unverständlichem Wolof palavern, und aus zwei unrasierten, fiebergeschüttelten Iren, denen längst alles egal ist.
    Geoffrey Spicer Simson war ein kräftiger Mann mit breiten, runden Schultern, hellgrauen Augen und kurzgeschorenem Haar. Am Kinn ließ er sich ein militärisch knappes Bärtchen stehen, um Nase und Mund hatten sich tiefe Falten tapfer verheimlichter Bitterkeit eingegraben. Es ist wahr, dass seine berufliche Laufbahn unglücklich verlaufen war, und dass er, der mit seinen bald achtunddreißig Jahren vielleicht der älteste Leutnant der königlichen Marine war, schon sehr lange auf eine Beförderung wartete. In den bald drei Jahren, die er nun in Gambia aushielt, war er nicht müde geworden, auf dem Korrespondenzweg in London Empfehlungen einzuholen und diese umgehend zurück nach London an diese oder jene Stabsstelle zu schicken. Wenn bedeutende Persönlichkeiten die Kolonie besuchten, so bemühte er sich um eine Audienz, verbrachte ganze Tage im Offiziersklub und die Abende bei allen möglichen gesellschaftlichen Anlässen, soweit er zu ihnen Zugang hatte. Dabei bemühte er sich um würdiges Auftreten – im Umgang mit Ranghöheren sowieso, und gegenüber Rangniedrigeren erst recht. Während der Konversation beim Essen zwang er sich, nicht mit den Händen zu fuchteln, sondern alle zehn Fingerspitzen – nicht aber die Handteller – sorgsam auf die Tischplatte zu legen. Unablässig ermahnte er sich, beim Reden nicht die Augen aufzureißen, denn das taten nur Unteroffiziere. Ein richtiger Kommandant betrachtete die Welt und seine Untergebenen gelassen unter halbgeschlossenen Lidern hervor, und er wendete den Kopf nicht ruckartig wie ein Huhn, sondern langsam, ganz langsam. Von gewissen Marotten aber, die bei einem Offizier der britischen Krone als sehr originell erscheinen mussten, konnte er nicht lassen. So war er dafür berüchtigt, bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten seinen Oberkörper zu entblößen, der reich tätowiert war mit Abbildungen von Schlangen, Schmetterlingen und vorchristlichen Bauwerken. Bedauerlicherweise hatte er sich auch eine näselnde Sprechweise angewöhnt, die er für vornehm hielt, und wenn er in Gesellschaft auftrat, prahlte er mit seinen Abenteuern in fernen Ländern, erzählte absonderliche Witze und ließ sich selten davon abhalten, mit schwankender Stimme Seemannslieder vorzutragen. Er war Fachmann auf allen Gebieten und stets gern bereit, auch ausgewiesene Experten an seinem Wissen teilhaben zu lassen. Er hatte das Mündungsdelta des Yangtse im Alleingang kartographiert, als erster Seemann überhaupt dessen berüchtigte Stromschnellen bezwungen und dabei ein paar chinesische Dschunken ins Schlepptau genommen, die es ohne seine Hilfe nie geschafft hätten. Bei der Gelegenheit hatte er nebenbei fließend Chinesisch gelernt und auch noch allerlei Schlachten gegen chinesische Piraten bestanden. Er hatte in Kanada eine riesige Goldmine gefunden und in Melanesien Menschenfressern die englische Nationalhymne beigebracht, er hatte Roald Amundsen zum Südpol begleitet und war schon öfters zum Nachmittagstee im Buckingham Palace gewesen.
    In seinem ganzen Wesen ließ Spicer eine ausgeprägte Wertschätzung der eigenen Person erkennen, verbunden mit regelmäßig wiederkehrenden, quälenden Selbstzweifeln. Er lebte, wenn nicht im Bewusstsein, so doch in der Hoffnung, dass er irgendwann etwas Großartiges vollbringen werde, das ihn zuhanden der Nachwelt auszeichnen würde vor allen übrigen Sterblichen. Wenn ihm im gesellschaftlichen Verkehr bei aller Prahlerei eine gewisse Schüchternheit anhaftete, so deshalb, weil er ahnte, dass nicht die ganze Welt über seine außergewöhnlichen Qualitäten auf dem Laufenden war. Gelegentlich kam es vor, dass die Idee von einem schöneren, saubereren Dasein in ihm nach Worten drängte, aber er fand sie nicht. Diese Hilflosigkeit machte ihn wütend, und diese Wut ließ er dann aus an wehrlosen Kellnern und Dienstboten und empfand böse Freude dabei, gefolgt
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