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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit
Autoren: Alex Capus
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eine Handvoll Kolonialbauten hervorlugten – aber dazwischen ästen keine Drachen, dahinter standen keine feuerspuckenden Vulkane, und am Himmel stand nicht plötzlich eine zweite Sonne, die die Schwerkraft der Erde aufgehoben hätte. Am Ankerplatz lagen keine chinesischen Dschunken und keine arabischen Dhaus, sondern der britische Handelsschoner Sheffield neben dem deutschen Schlachtschiff Königsberg, marinegrau und nass, die Geschütztürme sorgfältig verpackt zum Schutz vor dem ewigen Regen. Man konnte die Baracken der Zollanlagen mit ihren rostigen Wellblechdächern sehen, auf die ohrenbetäubend der Regen trommelte, und die Gehwege waren schlammig schwarz von der vielen Kohle, die unterwegs zu den Kohlebunkern Tag für Tag verloren ging.
    Als die Feldmarschall an der Landungsbrücke anlegte und die Matrosen die Festmacherleinen warfen, stand Anton Rüter an der Reling, verfolgte das Geschehen und wunderte sich, wie vertraut ihm alles war. Neu und ungewohnt war nur die brüllende Hitze und die atemberaubende Luftfeuchtigkeit, und dass alles, was er anfasste, heiß war: Die Reling war heiß. Wenn er einen Schritt zurücktrat und sich an die stählerne Schiffswand lehnte, war auch die heiß. In seiner Kabine war erst recht alles heiß. Die Zahnpaste war heiß. Das Wasser des Kaltwasserhahns war heiß. Auch die Bettlaken und das Kopfkissen waren heiß und ewig feucht von seinem Schweiß. Die Atemluft war heiß. Das Meerwasser, mit dem die Schiffsjungen das Deck schrubbten, war heiß. Sogar der Regen war heiß. Rüter ahnte, dass es für ihn eine ganze Weile nichts Kühles auf der Welt mehr geben würde; bald würde er die Erfahrung machen, dass in den Tropen noch nicht mal die Toten erkalten konnten, bevor ihnen das Fleisch von den Knochen fiel. Neu und ungewohnt war weiter, dass ihm rund um die Uhr der Schweiß in wahren Bächen von der Stirn in die Augen, über die Wangen in die Mundwinkel, übers Kinn und auf die Brust rann, sich in der Bauchfalte sammelte und über die Schenkel bis hinunter in die Schuhe troff, und dass jeder kleine Deckspaziergang ihn an den Rand der Erschöpfung brachte, und dass ihm schon das Ausbreiten und Zusammenfalten seiner Baupläne eine körperliche Anstrengung war. Aber exotischen Zauber hatte das keinen. Das war nicht romantisch, sondern nur unangenehm.
    Die Hafenarbeiter legten die Trossen um die Poller, richteten das Fallreep und nahmen erste Gepäckstücke entgegen. Plötzlich brüllte jemand einen militärischen Befehl, dann gab es Stiefelgetrappel und klackende Koppel und noch einen Befehl, und dann präsentierten beidseits der Landungsbrücke zwölf Askari, also Negersoldaten, und zwei weiße Unteroffiziere im strömenden Regen ihre Gewehre. Sie waren triefend nass und trugen sandfarbene Uniformen mit blauen Wadenbändern und rote Mützen mit weißen, aufgenähten Reichsadlern. Rüter war fasziniert. Die einzigen Neger, die er bis dahin zu Gesicht bekommen hatte, waren jene auf den Kakaodosen und auf der Sammelbüchse der katholischen Afrikamission gewesen. Einmal hätte er beinahe welche aus Fleisch und Blut gesehen, auf der Landesausstellung in Oldenburg im Sommer 1905, bei der Somalikrieger mit Tanz und Gesang aufgetreten waren; aber dann war der Alterspräsident des Papenburger Arbeiterturnvereins in den japanischen Weiher mit den Kobu-Fischen gefallen und die halbe Jugendriege hatte verdorbenes Erdbeereis erbrochen, weshalb man auf die Somalikrieger verzichtet und vorzeitig die Heimreise angetreten hatte.
    Es vergingen fünf Minuten, in denen der Arzt, die Hafenbeamten und die Hotelboten zur Feldmarschall heraufeilten; und als Anton Rüter seine Aufmerksamkeit wieder den Schwarzen auf der Landungsbrücke zuwandte, stellte er fest, dass diese gar nicht schwarz waren, sondern vielmehr braun, und zwar noch nicht mal sonderlich dunkelbraun, und dass ihr Anblick, hatte man sich erst an die Hautfarbe gewöhnt, nichts Exotisches mehr hatte, sondern ein ganz alltäglicher war. Denn die Hafenarbeiter nahmen keine wunderlich fremdländischen Verrichtungen vor, sondern hantierten mit den Tampen und schleppten Kisten und Säcke, wie das Hafenarbeiter in jedem Hafen überall auf der Welt nun mal tun. Und die Soldaten trommelten sich nicht mit den Fäusten auf die Brust, rollten nicht mit den Augen und streckten keine tätowierten Zungen heraus, sondern standen brav im Regen stramm, machten nach Soldatenart unwirsche Gesichter und wurden scharf beobachtet von ihren zwei
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