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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit
Autoren: Alex Capus
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Handelsleute sowie die Handelsleute selbst samt ihren Hausangestellten, Hausständen und Haustieren, und schließlich nach und nach die Soldaten der Schutztruppe, unter ihnen auch den Landsturmmann Rudolf Tellmann, der schweigsam wie stets seine Sachen packte, von niemandem Abschied nahm und grußlos in den Mannschaftswagen stieg. In der Kaserne zurück blieben nur der Kapitänleutnant, sein Freund Anton Rüter sowie eine Handvoll Askari. Und nachdem Kigoma verödet und zu zwei Dritteln entvölkert war, befahl er den Askari, sämtliche Telegraphenkabel abzubauen und den Drehwippkran am Hafen zu zerstören.
    Das mächtigste Herrschaftsinstrument aber, das man dem Feind unter keinen Umständen überlassen wollte, war die Bürokratie. Der Kapitänleutnant ging mit einem Leiterwagen zum Büro der Zollstation und dann zur Distriktsverwaltung, übers Lazarett und zurück zu seiner eigenen Schreibstube in der Kaserne, und überall raffte er sämtliche Akten zusammen, derer er habhaft werden konnte, um sie auf dem Kasernenhof zu einem großen Haufen zu stapeln und zu verbrennen. Während er aber nach Streichhölzern suchte, kam ihm der Gedanke, dass er, falls das Kriegsglück sich wenden und die deutsche Verwaltung zurückkehren sollte, dringend auf die Akten angewiesen sein würde. Also ging er mit Rüter zur Werft, wo neben der Schmiede die leeren Granathülsen der 105-mm-Kanonen lagen, stopfte sämtliche Akten in die Hülsen und vergrub sie unter einem markanten Affenbrotbaum am Dorfrand.
    Alle Deutschen waren weg und die meisten Askari desertiert; in Kigoma zurückgeblieben waren nur die Einheimischen, denen es gleichgültig war, ob sie sich unter deutsche, belgische oder britische Obrigkeit zu ducken hatten. Am 22. Juli 1916 verstummte die letzte Telegraphenleitung – jene, die der Bahnlinie entlang nach Tabora führte –, und von da an wussten Anton Rüter und der Kapitänleutnant, dass belgische oder britische Truppen die Bahnlinie durchbrochen hatten, und dass kein Zug mehr herkommen und keiner mehr wegfahren würde. Ihnen blieb nur noch, die Ankunft der fremden Soldaten abzuwarten. Sie hatten keine Waffen mehr, um sich zu verteidigen, und es war niemand mehr da, den sie hätten beschützen können, und es gab keine Kostbarkeiten mehr, die man hätte in Sicherheit bringen müssen. Die Kaserne war leer, das Gleis am Bahnhof gesprengt, die Werft und der Hafen unbrauchbar.
    Nur die Götzen war noch da.
    Rüter und der Kapitänleutnant saßen am Strand vor der Kaserne. In der Abenddämmerung hatten sie die letzten Chinin-Tabletten, die sie auf der Sanitätsstation noch hatten finden können, brüderlich geteilt, dann hatten sie am offenen Feuer ein Hähnchen gegrillt, das sich am Nachmittag verwirrt gackernd in die Kaserne verlaufen hatte. Nach dem Essen hatten sie einander gegenseitig die Haare geschnitten und dazu des Kapitänleutnants letzte Cognac-Reserven getrunken. Nun saßen sie auf ihren Zebralederstühlen, streckten die Stiefel in den Sand und betrachteten das Schiff, das einen Steinwurf von ihnen entfernt schwarz und teilnahmslos in der Nyesse-Bucht vor Anker lag, als sei es schon nicht mehr ganz von dieser Welt.
    «Schade drum», sagte der Kapitänleutnant. «Wirklich schade.»
    «Wir haben keine andere Wahl», erwiderte Anton Rüter. «Sie ist zu groß, und die Nieten sind nicht mehr zu lösen. Es geht nicht anders.»
    «Ich weiß. Aber schade ist es trotzdem.»
    «Ja.»
    «Wenn wir wollen, können wir uns die Plackerei auch sparen.»
    «Einfach abhauen?»
    «Aus militärischer Sicht ist es egal. Den See haben wir sowieso verloren.»
    «Aber sie ist unser Schiff.»
    «Allerdings.»
    «Wer weiß, was die Belgier mit ihr anstellen würden.»
    Der Kapitänleutnant lächelte. «Es wäre wirklich absurd, sie hier zu lassen, nachdem wir die hinterste und letzte Kneifzange beiseitegeschafft haben. Kriegen Sie das wirklich hin?»
    «Sicher.»
    «Ohne sie kaputt zu machen?»
    «Natürlich.»
    «Sollte man die Maschinen vielleicht erst noch gründlich schmieren, damit sie nicht rosten?»
    «Diese Maschinen sind immer gründlich geschmiert, Herr Kapitänleutnant.»
    «Verzeihung. Und hernach kriegt man das Schiff wieder flott?»
    «Die Belgier nicht. Ich schon. Wenn wir zuvor den Ballast über Bord werfen. Und falls wir überhaupt je wieder hierher zurückkommen.»
    Am folgenden Tag unternahmen es Anton Rüter, Kapitänleutnant von Zimmer und die verbliebenen dreißig Askari, die hundert Tonnen Sand, die als Ballast
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