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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit
Autoren: Alex Capus
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war.
    Trotzdem war er enttäuscht.
    Denn eines musste er sich eingestehen: Der Sieg über die Kingani war alles andere als die heldenhafte Tat gewesen, die er seit frühester Jugend von sich gefordert hatte. Was hatte er denn Großes vollbracht? Mit dreizehn Knoten auf den See hinausgerast war er, und dann hatte er mit überlegener Feuerkraft ein praktisch wehrloses Dampferchen zusammengeschossen. Das war keine Leistung, auf die er besonders stolz sein konnte. Er hatte weder übermenschlichen Opfermut unter Beweis gestellt noch überlegenen Geist oder militärisches Genie, sondern einfach nur das Recht des Stärkeren durchgesetzt – nicht anders als beispielsweise ein jugendlicher Rowdy, der am Sonntagnachmittag im Hyde Park aus Jux und Tollerei einem spazierenden Greis den Gehstock unter der zittrigen Hand wegschlägt.
    Besonders peinlich berührte Spicer der Blutrausch, dem seine Männer nach dem Sieg erlegen waren – das Gejohle, die Fläschchen voller Blut, die Beschimpfungen und die Fußtritte gegen die Leichen der deutschen Soldaten, die so belanglos gegenständlich im eigenen Blut gelegen hatten mit ihren hervorquellenden Gedärmen; schmerzlich war ihm auch die Erinnerung an die belgischen Askari, die den toten jungen Burschen Wangen und Handballen hatten abschneiden wollen, um sie am offenen Feuer zu grillen und zu verzehren. Was den Siegelring des Bootsführers betraf, so legte Spicer Wert auf die Feststellung, dass er den nicht gestohlen, sondern nur an sich genommen hatte, um ihn den Angehörigen des Toten zukommen zu lassen. Und immerhin konnte er sich zugute halten, dass er den beschämendsten Szenen ein Ende gemacht und ein würdiges Begräbnis angeordnet hatte, und dass er eine dreitägige Totenwache über den verschlossenen Gräbern angeordnet hatte, damit die Askari die Leichen nicht wieder ausgruben.
    Was die nähere Zukunft betraf, so war Spicer alles andere als zuversichtlich. Die Kingani war von allen drei deutschen Schiffen das kleinste, langsamste und am schlechtesten bewaffnete gewesen. Schon die Wissmann würde von ganz anderem Kaliber sein, und an die Götzen, die angeblich eine riesengroße Kanone auf der Back hatte, wagte er gar nicht zu denken. Mimi und Toutou hingegen hatten sich beim ersten Ernstfall als das herausgestellt, was sie in Wirklichkeit waren: keine Kriegsschiffe, sondern Ausflugsboote fürs Sonntagspicknicks. Beim geringsten Wellengang hatten sie angefangen zu hüpfen und zu tanzen, hatten nur noch die halbe Geschwindigkeit geschafft und waren kaum mehr steuerbar gewesen, und im Gefecht hatten sie derart unter den Rückschlägen ihrer eigenen Kanonen gelitten, dass die Nägel aus den Deckplanken sprangen und die Verstrebungen sich von den Spanten lösten; hätte das Gefecht länger gedauert, wären die Geschütze und die Lafetten samt den Planken, auf denen sie festgeschraubt waren, über Bord gegangen. Und als Toutou mit einem kleinen Schubser an der Kingani angelegt hatte, um die überlebenden Deutschen aufzunehmen, war gleich die Bugspitze zersplittert, und man hatte froh sein müssen, dass sie es überhaupt zurück in den Hafen schaffte. Spicer hatte gleich am folgenden Tag nach London telegraphiert, dass er mit den zur Verfügung stehenden Booten unmöglich daran denken könne, die Götzen anzugreifen. Antwort war bisher keine eingetroffen.
    Kam hinzu, dass nun alle krank wurden. Seit der Ankunft am Tanganikasee hatte sich Doktor Hanschells Konzept der jungfräulichen Lagerplätze nicht mehr aufrechterhalten lassen, da in unmittelbarer Nähe des Hafens auch die belgische Siedlung und das Eingeborenendorf lagen, wo Malaria, Amöbenruhr und Syphilis grassierten; so waren nach und nach sämtliche Männer des Expeditionskorps krank geworden. Spicer selbst litt unter Fieber, rasenden Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Ohrensausen und einem nervösen Zittern, das wohl eine Nebenwirkung des Chinins war, das er täglich in hohen Dosierungen schluckte. Tage-und wochenlang lag er schwitzend in seiner dunklen Hütte unter dem Moskitonetz, während die Männer, die noch halbwegs gesund waren, Mimi und Toutou zu reparieren versuchten.
    Die Tage nach dem Sieg waren nicht Tage des Triumphs, sondern Tage der Krankheit, der Ernüchterung und der Scham. Spicer schämte sich der Hinfälligkeit seines Körpers und der Banalität seines Erdendaseins, dessen großartiger Höhepunkt es nun also sein sollte, dass er ein kleines Dampfschiff zerstört und drei blonde junge Burschen vom Leben in
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