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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit
Autoren: Alex Capus
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Aufklärungsfahrten der Wissmann teilnahmen, die seit Wochen sämtliche Buchten des Tanganikasees nach der Kingani absuchte. Der Kapitänleutnant nahm an, dass das verschwundene Schiff mit Kessel-oder Maschinenschaden in irgendeiner menschenleeren Bucht vor Anker lag, und dass die vierzehn Mann Besatzung hilflos am Strand hockten und auf Rettung warteten.
    In der Kaserne herrschte eine nahezu wehmütige Stimmung; es war der nahende Abschied, den die Männer ahnten, und der sie sanft und nachgiebig werden ließ. Die ganze Truppe wusste, dass vom Kilimandscharo her die Briten unter General Smuts mit hunderttausend Mann im Anmarsch waren, und dass im Süden rhodesische, südafrikanische und portugiesische Truppen auf Bismarckburg vorrückten, und dass im Westen fünfzigtausend Belgier auf das Signal zum Angriff warteten.
    Angesichts dieser hundertfachen Übermacht konnte es Kapitänleutnant von Zimmer aus strategischer Sicht völlig gleichgültig sein, ob er nun mit einem, zwei oder drei Dampfern auf dem See umherkreuzte. Die Kingani war spurlos verschwunden, die Wissmann nur bei Windstille einigermaßen seetüchtig, und die Götzen hatte ihre 105-mm-Kanone wieder hergeben müssen, da das Oberkommando diese im Norden gegen General Smuts einsetzen wollte. Um das Schiff nicht gänzlich wehrlos erscheinen zu lassen, hatte der Kapitänleutnant den Papenburgern befohlen, anstelle des Geschützes eine hölzerne Attrappe zu montieren. Mit einer hölzernen Kanone aber konnte sich die Götzen nicht mehr auf den See hinauswagen und saß im Hafen fest.
    Wer noch halbwegs bei Trost war, musste in dieser Lage erkennen, dass der Krieg am Tanganikasee, bevor er richtig begonnen hatte, entschieden war. Dem Kapitänleutnant blieb nur noch, sich mit Anstand aus der Affäre zu ziehen und seine Leute, sobald das Oberkommando es gestattete, an einen möglichst sicheren Ort zu führen. Vorerst aber galt seine Sorge den vierzehn Mann der Kingani –und insgeheim auch der kleinen weißen Ziege, die als Maskottchen mitgefahren war. Alle paar Tage schickte er die Wissmann auf die Suche, mal am deutschen Ufer entlang, dann am belgischen Ufer nordwärts oder – wie am Abend des 8. Februar 1916 – an der Westküste entlang in den Süden.
    Auf jener Fahrt war der junge Wendt als Maschinist mit an Bord. Schwarz und spiegelglatt erstreckte sich der See in die klare, windstille Nacht hinaus, und der Halbmond warf ein schmales, weißes Band von der schwarzen Küste bis zur Bordwand der Wissmann, die wie bewegungslos im Wasser lag und doch beinahe acht Knoten Fahrt machte. Hermann Wendt war zufrieden. Er stellte sich längst keine Fragen mehr über den klassenkämpferischen Nutzen des Weltkriegs und die historisch-materialistische Unausweichlichkeit seiner Bootsfahrten, sondern war einfach darum besorgt, dass die Maschine schön rund lief und der Dampfdruck stabil blieb. Er wickelte sich in eine Wolldecke, um sich vor dem nächtlichen Fahrtwind zu schützen, schaute dem Heizer auf die Finger und hoffte, dass sie die Kingani möglichst bald finden würden; denn die vierzehn Mann ihrer Besatzung – die sechs Deutschen genauso wie die acht Afrikaner, die er alle mit Vor-und Vatersnamen kannte – waren ihm in den letzten Monaten, die er in der Kaserne verbracht hatte, ans Herz gewachsen; die kleine, weiße Ziege übrigens auch. Nach drei Stunden Fahrt türmten sich vor der Wissmann schon bedrohlich hoch die dunklen Berge Belgisch-Kongos auf, worauf sie nach Süden schwenkte und der Bootsführer mit seinem Fernglas Stunde um Stunde die mondbeschienene Küste absuchte, ob nicht hinter der nächsten Felsnase, in dieser Bucht oder jener Flussmündung die Kingani liege. Irgendwann am Ende der Nacht legte Hermann Wendt sich in einer windgeschützten Ecke schlafen.
    Er erwachte im Morgengrauen, weil ihm der Bootsführer einen Stiefeltritt gegen die Schulter verpasste.
    «Aufwachen, Wendt! Gib Volldampf, der Feind rückt an! Öl! Gieß Öl ins Feuer! Mach schon!»
    Der junge Wendt stolperte nach achtern ins Kabelgatt, um die vier Kanister Petroleum zu holen, die er eigens für Notfälle geladen hatte. Auf dem Hinweg konnte er tatsächlich zwei schwarze Punkte am Horizont erkennen, und eine Minute später, auf dem Rückweg zur Feuerluke, waren die Punkte schon ein wenig größer geworden. Er schüttete das Petroleum übers Feuerholz, um dessen Heizkraft zu erhöhen, und wenig später machte die Wissmann nicht mehr nur acht, sondern achteinhalb Knoten Fahrt.
    Mehr
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