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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit
Autoren: Alex Capus
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war nicht möglich, und Zuflucht gab es keine. Der rettende, durch schwere Kanonen geschützte Hafen von Kigoma war acht Stunden entfernt.
    Hermann Wendt beobachtete entsetzt, wie die feindlichen Boote Minute um Minute näher kamen. Ihm graute vor dem mit maschineller Unaufhaltsamkeit näher rückenden Feind, und er hatte namenlose Furcht vor dessen Bordgeschützen, die ihn schon bald, in einer Dreiviertelstunde oder in neunzig Minuten, in Stücke reißen würden, worauf seine sterblichen Überreste ins Wasser fallen und, falls die Krokodile sie nicht erwischten, hinabsinken würden in die tiefsten Tiefen dieses grauenvoll tiefen Sees, der tiefer ins Erdinnere hinabreichte als der Indische Ozean, und irgendwann an einem Ort, den noch nie ein Sonnenstrahl berührt hatte, vielleicht in fünfhundert, achthundert oder tausend Metern Tiefe, würde er ins Blickfeld eines säbelzahnbewehrten Tiefseemonsters geraten, dessen Maul von einem körpereigenen Lämpchen beleuchtet wurde, und dieses Monster würde Hermann Wendt verschlingen, hinunterschlucken und verdauen, bis nichts mehr von ihm übrig war als der graugrüne Schlamm, den das Monster an seinem hinteren Ende ausscheiden würde, und dieser Schlamm würde sich absenken bis auf den leblosen Urgrund des Sees, wo er sich einbetten würde in alle anderen Sedimente, die sich über die nächsten paar Millionen Jahre aufeinanderschichten und unter dem Druck der Kontinentalplattenverschiebung zu einem neuen Gebirge erheben würden. Diese Aussicht war zwar grauenvoll, eigentlich aber vollkommen uninteressant und geradezu langweilig, weil sie so unausweichlich war. Die feindlichen Boote kamen näher mit mechanischer Berechenbarkeit und würden in einer Stunde oder zweien da sein; das war so unvermeidlich wie der Sonnenaufgang am Morgen oder der Vollmond vor Karfreitag. Insofern waren die näher kommenden Boote ein Problem, für das es keine Lösung gab, und also eigentlich gar kein Problem. Sie gaben keinerlei Anlass zum Nachdenken, sondern waren einfach nur zum Fürchten, und also im Grunde nicht der Rede wert.
    Nach dreistündiger Verfolgungsjagd hatte die nervenaufreibende Monotonie ein Ende. Die zwei feindlichen Boote, an deren Heck nun deutlich der Union Jack zu sehen war, hielten sich außerhalb der Reichweite der deutschen Geschütze und schossen sich bequem ein. Um elf Uhr dreißig erhielt die Wissmann den ersten Treffer, kurz darauf den zweiten in die Kesselhaube. Dampf strömte aus, das ölgetränkte Holz fing Feuer, und durch ein großes Loch in der Schiffswand drang sehr viel Wasser ein. Hermann Wendt, geblendet von den Lichtblitzen und taub von den Detonationen, klammerte sich an die Reling, weil die Wissmann sich zur Seite neigte; und als das Schiff Sekunden später mit dem Bug voran gurgelnd und speiend in den schwarzen Fluten verschwand, sank Hermann Wendt nicht mit hinab in die tiefsten Tiefen dieses grauenvoll tiefen Sees, sondern ließ die Reling fahren und fing an zu schwimmen.
     

 
    24
    Das lange Warten im Nebel
     
     
     
    Albertville, 9. Februar 1916. Telegramm an die königliche Admiralität in London, Mission auf dem Tanganikasee erfüllt. Habe heute feindlichen Dampfer Hedwig von Wissmann aufgespürt und versenkt. Jagd begann 07.45 Uhr, Feind sank um 15 Uhr nach kurzem Gefecht. Feindliche Verluste: zwei Offiziere und drei Askari tot, zwölf Weiße und neun Schwarze gefangen. Auf unserer Seite keine Verluste.
    Gezeichnet: G. B. Spicer Simson, Commander Royal Navy.
     
    Diesmal hatte Spicer Simson alle Jubelfeiern im Keim erstickt. Nachdem die Wissmann gesunken war, hatte er die Überlebenden an Bord nehmen lassen und Befehl zur Rückkehr nach Albertville gegeben, und während der ganzen dreistündigen Fahrt hatte er schweigend vorne im Bug gestanden und seinen Männern den Rücken zugekehrt. Im Hafen angekommen, ließ er die Boote sturmsicher am Pier vertäuen und die Gefangenen ins belgische Lager bringen; und als die Schaulustigen ihn beim Landgang mit Triumphgeheul empfangen wollten, unterband er das mit einer barschen waagrechten Handbewegung. Es war kurz nach halb drei Uhr nachmittags. Forschen Schrittes ging er hinauf zu seiner Hütte, verschwand hinter der Tür und kam nicht mehr hervor. Da aber jener 9. Februar 1916 ein Mittwoch war, ging pünktlich um Viertel vor vier Uhr die Tür wieder auf, und Spicers Diener trat mit der zusammengerollten Matte vors Haus, um seinem Herrn das gewohnte Bad zu bereiten.
     
     
    In der Abenddämmerung saßen
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