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Eine Feder aus Stein

Eine Feder aus Stein

Titel: Eine Feder aus Stein
Autoren: Cate Tiernan
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ihnen musste es ziemlich frustrieren, dass Thais und ich noch am Leben waren und hier sein konnten. Doch ich sah kein Gesicht, das mir einen Hinweis hätte geben können, um wen es sich handelte.
    »Lasst uns anfangen«, sagte Daedalus, und wie aufs Stichwort zuckte ein Blitz über den Himmel und ein drohender Donnerschlag ertönte. Thais atmete tief aus, ich drückte ihre Hand. Der Zirkel begann, sich dalmonde, im Uhrzeigersinn, zu bewegen, und Daedalus sang etwas, das ich nicht verstand und bei dem es sich um ein altes, sehr altes Französisch handeln musste, genau wie damals, 1763, als der Ritus zum ersten Mal abgehalten worden war. Für einen kurzen Moment hatte ich ein Bild vor Augen: Ich, in zweihundert Jahren, wie ich den Ritus erneut vollzog.
    Jules stimmte in den Gesang mit ein, ließ seine tiefe Stimme mühelos mit der von Daedalus verschmelzen. Leise begann ich mit meinem eigenen Zauber und legte zunächst dessen Grenzen fest, wobei ich hoffte, nichts zu vergessen. Langsam, ganz langsam webte ich dann den eigentlichen Zauber um Thais und mich herum. Wieder wünschte ich, ich hätte mehr Zeit zum Üben gehabt, doch die Worte kamen leicht und ohne Widerstand aus meinem Mund. Ich hatte das Gefühl, das Richtige zu tun, die Magie richtig zu nutzen. Die Temperatur fiel, während sich unser Zirkel immer schneller um das knisternde Feuer bewegte. Der Wind war kalt und feucht.
    Inzwischen hatten alle in den Gesang eingestimmt. Daedalus’ Stimme glich dem Haupttrieb einer Glyzinie, um den sich alle anderen Stimmen rankten. Sie verflochten sich ineinander, liefen auseinander, umeinander herum, jede anders als die andere, und doch verschmolzen sie beinahe nahtlos zu einem großen Ganzen. Ich fing die Worte collet, tâche, plume und cindres auf, die ich schon mal irgendwo gehört hatte. Während ich Thais’ Hand immer noch fest drückte, beendete ich den zweiten Teil meines Zaubers und begann mit dem dritten.
    Es schien nichts Besonderes zu passieren, außer dass die magische Energie schneller und voller aufstieg, als ich es je gefühlt hatte. Der Wind wurde stärker, blies uns durchs Haar und durch die Roben. Hier und da ließ er Blätter wie kleine Zyklone aufwirbeln. Das Feuer machte unsere Gesichter schön rosig und warm.
    Von Zeit zu Zeit schloss ich die Augen, um mich auf meinen eigenen Zauber zu konzentrieren. Neben mir sang Thais, deren Lied ich erkannte. Natürlich wusste sie nichts über Daedalus’ Zauber, also rief sie einfach nur ihre Kräfte an. Unsere Hände, die sich gegenseitig umklammert hielten, fühlten sich heiß an. Auch der Erdboden selbst pulsierte vor Energie und Kraft. Der Wind peitschte mir das Haar ins Gesicht. Aus Versehen übersprang ich einen Vers meines Zaubers, der mir nur zur Hälfte wieder eingefallen war. Verdammter Mist. Nun musste ich den dritten Teil noch einmal von vorne anfangen.
    Thais drückte meine Hand. Als ich die Augen öffnete, sah ich ihr besorgtes Gesicht.
    »Ist das ein Hurrikan?«, brachte sie mit Mühe hervor.
    Um uns herum wogten und bogen sich die Bäume. Der Wind war stark und kalt und roch nach Regen. Die Wolken über uns sahen aus wie gequirlt, eine nicht enden wollende Folge von Blitzen erhellte sie von innen.
    Ich schüttelte den Kopf. Mein Herz klopfte. Ich fühlte mich erschreckend energiegeladen. »Nein. Nur richtig mächtige Magie.«
    Bestürzung zeichnete sich auf Thais’ Gesicht ab und ich war auch nicht gerade begeistert. Nan hatte die Augen geschlossen und sang mit kräftiger, entschiedener Stimme, die Füße fest in der niedergetretenen Wiese verankert. Der Feuerschein glitt über ihr Gesicht und ließ es weicher erscheinen, jünger.
    Schnell fuhr ich mit meinem Zauber fort. Ich musste so schnell es ging zum Ende kommen. Alle sangen jetzt in voller Lautstärke, doch der Wind trug unsere Stimmen davon, wirbelte sie hinauf in die Wolken, verzahnte sie mit dem Blitz.
    Lucs Gesicht war gerötet und unerträglich attraktiv. Mein Herz sehnte sich danach, ihn anzusehen. Ouida zu meiner Rechten war hochkonzentriert und ihre glatte braune Haut glänzte feucht. Manon schien fröhlich, ihr Gesicht strahlte hoffnungsfroh und sie musste fast hüpfen, um mit dem Tempo des Zirkels Schritt zu halten. Und Richard … Seine dunklen eindringlichen Augen ruhten auf mir. Ich sah, wie sich seine Lippen bewegten, doch ich konnte seine Stimme nicht aus dem Gesang heraushören. Er hatte mich geküsst. Ich hatte ihn geküsst. Wir liebten einander nicht, ja wir mochten uns
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