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Eine blaßblaue Frauenhandschrift

Eine blaßblaue Frauenhandschrift

Titel: Eine blaßblaue Frauenhandschrift
Autoren: Franz Werfel
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seinem Kopf rattert ein Eisenbahnzug. Und in diesem Eisenbahnzug fährt Vera aus einem Land, wo sie nicht atmen kann, in ein Land, wo sie atmen kann. Wer hätte das gedacht, daß in den Ländern, wo diese Überheblichen nicht atmen können, hochentwickelte Menschen wie Emanuels Vater zu Tode gequält werden, mir nichts, dir nichts? Das sind doch erwiesenermaßen Greuelmärchen. Ich glaub’s nicht. Wenn Vera auch die Wahrhaftigkeit selbst ist, ich will es nicht glauben. Aber was ist das? Mir scheint, auch ich kann hier nicht atmen. Wie? Ich, als Erbeingesessener, kann hier nicht atmen? Das möcht ich mir doch ausgebeten haben! Am besten, ich lasse mir nächstens mein Herz untersuchen. Vielleicht schon übermorgen, ganz heimlich, damit Amelie nichts davon erfährt. Nein, verehrter Kollege Skutecky, ich werde nicht zu Herrn Lichtl wallfahrten, zur triumphierenden Mediokrität, sondern sans gêne zu Alexander Bloch. Vorher aber, morgen früh schon, laß ich mich bei Vinzenz Spittelberger melden: Bitte Herrn Minister gehorsamst um Entschuldigung für die gestrigen Difzilitäten. Ich hab mir die Anregungen des Herrn Ministers ruhig überschlafen. Herr Minister haben wieder einmal das Ei des Kolumbus entdeckt. Hier hab ich gleich den Ordensantrag für Professor Bloch und das Er nennungsdekret für Professor Lichtl mitgebracht. Wir müssen uns endlich auf unsre nationalen Persönlichkeiten besinnen und sie gegen die internationale Reklame durchsetzen. Herr Minister sind doch äußerst expeditiv und werden beim heutigen Kabinettsrat diese Stücke gewiß durch den Herrn Bundeskanzler unterfertigen lassen. – Danke Ihnen, Herr Sektionschef, danke Ihnen! Ich habe nicht einen Moment daran gezweifelt, daß Sie meine einzige Stütze sind hier im Haus. Im Vertrauen, falls ich demnächst ins Kanzleramt übersiedle, nehme ich Sie als Präsidialisten mit. Wegen gestern brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Sie waren halt ein bißl enerviert durchs Wetter. – Ja, natürlich, das Wetter! Stürmisches Wetter. Leonidas hat den Wetterbericht des Radios im Ohr. Während er sich für die Oper umkleidete, hatte er seinen Apparat eingeschaltet: »Depression über Österreich. Stürmisches Wetter im Anzug.« Das ist der Grund, warum er nicht atmen kann. Leonidas nickt noch immer mechanisch ins Leere. Er grüßt auf Vorschuß, um Amelie gefällig zu sein.
    Die Gäste, die man heute ins Theater geladen hat, sind erschienen. Ein Frack und eine schwarz-silberne Robe mit einem Abendmantel wie aus Metall. Die Damen umarmen einander. Leonidas drückt seinen Mund auf eine duftende fette Hand mit einigen braunen Leberfecken. Wo bist du schon, feischlose Hand, bittersüße Hand mit deinen zerbrechlichen Fingern ohne Ring!?
    »Gnädige Frau werden jedesmal jünger …« »Wenn das so weitergeht, Herr Sektionschef, werden Sie mich nächstens als Baby begrüßen dürfen …«
    »Was gibt es Neues, lieber Freund? Was sagt die hohe Politik?«
    »Mit der Politik hab ich, Gott sei Dank, nichts zu tun. Ich bin ein schlichter Schulmann.«
    »Wenn auch du schon geheimnisvoll wirst, teurer Sektionschef, muß es ziemlich schlimm stehen. Ich hofe nur, daß England und Frankreich mit uns Einsehen haben werden. Und Amerika, vor allem Amerika! Wir sind schließlich das letzte Bollwerk der Kultur in Mitteleuropa …«
    Diese Worte seines Gastes reizten Leonidas, er weiß selbst nicht warum.
    »Kultur haben«, sagt er grimmig, »das heißt, anders ausgedrückt, einen Stich haben. Wir alle hier haben einen Stich, weiß Gott. Ich rechne mit keiner Macht, auch mit der größten nicht. Die reichen Amerikaner kommen im Sommer gerne nach Salzburg. Aber Theaterbesucher sind keine Verbündete. Alles hängt davon ab, ob man stark genug ist, sich selbst zu revidieren, eh die große Revision kommt …«
    Und er seufzt tief auf, weil er sich nicht stark genug
    weiß und weil das ungegliederte Gesicht des Schwammigen haßvoll vor ihm zu schwanken beginnt.
    Majestätischer Applaus! Der ausländische Würdenträger, von einheimischen umkränzt, tritt an die Brüstung der Festloge. Der Saal wird dunkel. Der Kapellmeister, vom einsamen Pultlicht angestrahlt, krampft sein Profl entschlossen zusammen und breitet die Schwingen eines riesigen Geiers aus. Nun fattert der Geier, ohne vom Fleck zu kommen, mit regelmäßigen Schlägen über dem unbegründet überschwenglichen Orchester. Die Oper beginnt. Und das hab ich früher einmal doch ganz gern gehabt. Eine ziemlich beleibte
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