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Eine blaßblaue Frauenhandschrift

Eine blaßblaue Frauenhandschrift

Titel: Eine blaßblaue Frauenhandschrift
Autoren: Franz Werfel
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zierliche Dame seiner Gewissensqual vor sich, die Wiedergefundene einer alten Schuld, sondern eine Vera voll Gegenwart, die er nicht mehr fürchtete. Da von ihm der Zwang gewichen war, sein Leben zu ändern, schoß in seine Nerven die spielerische Überlegenheit zurück, die er am Morgen verloren hatte. Und mit ihr eine kurzatmige, aber verrückte Zärtlichkeit für dieses Weib, das wie eine Geistererscheinung aufgetaucht war, um für ewig aus seinem Schuldge fühl zu entschwinden, ernst, edel und ohne den leisesten Anspruch. Er packte ihre gewichtslosen Hände und drückte sie gegen seine Brust. Ihm war, als knüpfe er jetzt sein Erlebnis dort an, wo er es vor achtzehn Jahren so schnöde abgebrochen hatte:
    »Vera, liebste, liebste Vera«, stöhnte er, »ich stehe schlimm vor Ihnen da. Worte, die das ausdrücken, gibt’s nicht. Haben Sie mir verziehen? Konnten Sie verzeihen? Können Sie verzeihen?«
    Vera sah zur Seite, indem sie den Kopf kaum merkbar abwandte.
    Wie lebte diese kleine abweisende Drehung in seiner Seele! Unbegreifich, nichts war verloren. Alles ging in mystischer Gleichzeitigkeit vor sich. Ihr Profl war für ihn eine Ofenbarung. Die Tochter Doktor Wormsers, das Mädchen von Heidelberg, hier stand es leibhaftig, nicht mehr vom Gedächtnis verwischt. Und die graue Strähne, der verzichtende Mund, die Falten auf der Stirn, sie erhöhten bittersüß die füchtige Entzückung:
    »Verzeihen«, nahm Vera seine Frage auf, »das ist ein phrasenhaftes Wort. Ich mag’s nicht. Was man zu bedauern hat, das kann man doch nur sich selbst verzeihen …«
    »Ja, Vera, das ist hundertmal wahr! Wenn ich Sie so sprechen höre, dann erst weiß ich, was für ein einzigartiges Geschöpf Sie sind. Wie recht haben Sie getan, nicht zu heiraten. Vera, die Wahrhaftigkeit selbst ist zu gut zur Ehe. Jeder Mann hätte an Ihnen zum Lügner werden müssen, nicht nur ich …« Leonidas fühlte in sich die Lust männlicher Unwiderstehlichkeit. Er hätte jetzt den Mut gehabt, Vera an sich zu reißen. Er zog es aber vor, zu klagen: »Ich habe mir nie verziehen und ich werde mir nie verzeihen, nie, nie …«
    Ehe er’s aber noch ausgesprochen, hatte er sich’s verziehn, für einst und immer und die Schuld von der Tafel des Gewissens gelöscht. Deshalb klang diese Behauptung so freudig. Fräulein Wormser entzog ihm mit einer leichten Bewegung ihre Hände. Sie nahm ihr Täschchen und die Handschuhe vom Tisch:
    »Ich werde jetzt gehen müssen«, sagte sie. »Bleiben Sie noch ein paar Minuten, Vera«, fehte er, »wir werden uns in diesem Leben nicht wiedersehen. Schenken Sie mir zu allem noch einen guten Abschied, damit ich mich an ihn erinnern kann wie ein völlig Begnadigter …«
    Sie sah noch immer zur Seite, hielt aber im Zuknöpfen ihrer Handschuhe inne. Er setzte sich auf die Armstütze eines Fauteuils, so daß er sein Gesicht zu dem ihren empordrehen mußte und ihm näher kam als bisher:
    »Wissen Sie, liebste, liebste Vera, daß seit achtzehn Jahren kein Tag vergangen ist, an dem ich nicht stumm wie ein Hund gelitten habe Ihretwegen und meinetwegen …«
    Dieses Geständnis hatte nichts mehr mit Wahrheit und Unwahrheit zu tun. Es war nichts andres als die schwingende Melodie der Erlösung und köstlichen Wehmut, die ihn erfüllten, ohne sich zu durchkreuzen.
    Obwohl er ihrem Antlitz so nahe war, nahm er keine Notiz davon, wie blaß, wie müde Vera plötzlich aussah. Die Handschuhe waren zugeknöpft. Sie hielt das Täschchen schon unterm Arm:
    »Wär’s nicht besser«, sagte sie, »jetzt auseinanderzugehen?«
    Leonidas aber ließ sich nicht unterbrechen: »Wissen Sie, Liebste, daß ich mich heute den ganzen Tag, Stunde für Stunde mit Ihnen beschäftigt habe. Sie waren mein einziger Gedanke seit diesem Morgen. Und wissen Sie, daß ich noch bis vor wenigen Minuten fest davon überzeugt war, daß Emanuel Ihr und mein Sohn ist. Und wissen Sie auch, daß ich wegen dieses Emanuel nahe, sehr nahe daran war, in Pension zu gehen, von meiner Frau die Scheidung zu verlangen, unser entzückendes Haus zu verlassen und knapp vor Torschluß ein neues hartes Leben zu beginnen? …«
    In der Antwort der Frau klang zum erstenmal der alte echte Spott auf, jedoch wie vom Rande einer tiefen Erschöpfung:
    »Wie gut, daß Sie nur nahe daran waren, Herr Sektionschef …«
    Leonidas konnte sich selbst nicht mehr Einhalt gebieten. Gierig brach sie hervor aus ihm, die Beichte: »Seit achtzehn Jahren, Vera, seit der Stunde, wo ich Ihnen zum letztenmal
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