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Eine blaßblaue Frauenhandschrift

Eine blaßblaue Frauenhandschrift

Titel: Eine blaßblaue Frauenhandschrift
Autoren: Franz Werfel
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ihrer leuchtenden Erscheinung, feierlich gestimmt. Sie streift ihn mit einem Blick und sieht einen eleganten Mann, der über der blendenden Frackbrust ein zerknittertes und graues Gesicht aufgeschraubt trägt. Ein füchtiger Schatten von Schreck fällt auf sie. Was hat sich da ereignet? Ist zwischen Lunch und Oper aus dem ewig jungen Tänzer ein vornehmer älterer Herr geworden, dessen zwinkernde Augen und herabgezogene Mundwinkel die Lebensmüdigkeit des Abends kaum unterdrücken können?
    »Hast du dich sehr geplagt heut, armer Kerl«, fragt Amelie und ist schon wieder zerstreut. Leonidas arbeitet feißig an seinem begeistert-mokanten Lächeln, ohne es ganz zustande zu bringen: »Nicht der Rede wert, lieber Schatz! Eine einzige Konferenz. Ich hab den ganzen Nachmittag sonst gefaulenzt …«
    Sie berührte ihn liebkosend mit ihrem marmorblanken Rücken:
    »Hat dich mein blödsinniges Gerede aus der Fassung gebracht? Bin ich schuld? Du hast recht, León. Alles Unheil kommt von diesem Hungern. Aber sag, was soll ich tun, mit neununddreißig bald, wenn ich nicht mit einem wunderschönen Doppelkinn, einer gepolsterten Krupp und zwei Klavierbeinen durchs Leben wackeln will? Du würdest dich bedanken, du Schönheitsfanatiker! Schon jetzt, sag’s nicht weiter, kann ich ein Modell ohne kleine Änderungen kaum mehr tragen. Ich hab nicht das Glück, so ein hageres Gliederpüppchen zu sein wie deine Anita Hojos. Wie ungerecht seid ihr Männer! Hättest du dich seelisch mehr mit mir beschäftigt, war ich nicht solch eine hemmungslose Kanaille geblieben, sondern war auch so taktvoll und feinfühlig und entzückend verschämt geworden, wie du es bist …«
    Leonidas macht eine kleine wegwerfende Handbewegung:
    »Mach dir keine Sorgen deswegen! Ein guter Beichtvater vergißt die Sünden seines Beichtkindes …«
    »Also, das ist mir auch nicht recht, daß du meine ehelichen Leiden so schnell vergißt«, schmollt sie, wendet sich aber schon wieder ab, das Opernglas an die Augen führend: »Was für ein schönes Haus heute!«
    Es ist wirklich ein schönes Haus. Alles, was Rang und Namen besitzt, hat sich an diesem Abend in der Oper versammelt. Ein hoher Würdenträger des Auslandes wird erwartet. Zugleich nimmt eine gefeierte Sängerin vor ihrem amerikanischen Urlaub Abschied vom Publikum. Amelie wirft unermüdlich das Netz ihres grüßenden Lächelns aus und zieht es ebenso unermüdlich ein, triefend vom Licht der Erwiderung. Wie Helena auf den Zinnen Trojas zählt sie die Namen der versammelten Persönlichkeiten auf, in einer erregten Teichoskopie des Snobismus:
    »Die Chvietickys, Parterreloge No. , die Prinzessin hat schon das zweitemal herübergegrüßt, warum antwortest du nicht, León? Daneben die Bösenbauers, wir haben uns sehr schlecht benommen gegen sie, wir müssen sie noch in diesem Monat einladen, Bridgepartie en petit comité, ich bitte, sei besonders liebenswürdig. Jetzt schaut auch der englische Gesandte herüber, ich glaube, León, du mußt es zur Kenntnis nehmen. In der Regierungsloge sitzt schon dieser unmögliche Koloß, das Weib vom Spittelberger, ich glaub, sie hat einen Wolljumper an, was würdest du sagen, wenn ich so aussehen täte, du wärst gar nicht einverstanden, also ehre meinen verborgenen Heldenmut! Die Torre-Fortezzas winken, wie entzückend die junge Fürstin aussieht, und sie ist geschlagene drei Jahre älter als ich, ich schwör dir’s, du mußt danken, León …« Leonidas dreht sich mit kleinen grinsenden Verbeugungen nach allen Seiten. Er grüßt aufs Geratewohl, wie es die Blinden tun, denen man die Namen der Begegnenden ins Ohr füstert. So sind diese Paradinis, geht es ihm durch den Kopf, er vergißt aber, daß ihn sonst, nicht anders als Amelie, der erlauchte Namensschwall wohlig durchschauert … Immer wieder fordert er sich selbst auf, glücklich zu sein, weil alles so unerwartet, so vortrefich sich gelöst hat, weil er zu schweren Geständnissen und Entscheidungen nicht mehr verhalten werden kann, kurz, weil sein trübes Geheimnis aus der Welt gescha und er freier und leichter sein darf als jemals. Leider aber ist er nicht imstande, seiner Einladung zum Glücklichsein Folge zu leisten. Er leidet sogar verstiegenerweise darunter, daß Emanuel nicht sein Sohn ist. Einen Sohn hat er verloren. Oh, wäre Emanuel doch der mittlerweile erwachsene Junge, der kleine Joseph Wormser, der vor achtzehn Jahren in Sankt Gilgen an Genickstarre zugrunde ging! Leonidas kann sich nicht helfen, in
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