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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land
Autoren: Sherko Fatah
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standen, konnte ich nur aus der Zeitung und durch Nidal erfahren – und für ihn schien es die im Augenblick günstigere, die Seite des Westens zu sein.
    Das alles sind Dinge, über die ich mir in den Jahren nach dem Krieg nicht viele Gedanken gemacht hatte. Nun aber, mit dem Auftauchen gleich zweier Menschen aus der Vergangenheit, regte sich in mir wieder das Interesse an den politischen Kämpfen. Nur der Ehrgeiz hat mich inzwischen verlassen, jener alte Drang, etwas sein zu wollen inmitten von anderen, denen mich eine Uniform gleichmachte. Überdies verhindert das mein neues Gesicht; es würde mich als Uniformträger lächerlich machen.
    Das Auftauchen des Doktors hier in der Stadt befriedigte meinen Drang nach Vollständigkeit; nun hatte die Geschichte nicht nur einen Anfang, wie ich es immer wollte, sondern auch ein angemessenes Ende. Dennoch blieb ein Rest Zweifel in mir, nach wie vor verdächtigte ich mich mutwilliger Zeichenleserei. Bei Licht betrachtet bewies auch eine Mütze nicht viel, wer auch immer sie sich aufsetzte.
    Als ich sah, dass die Fenster gegenüber dunkel blieben und im Krankenhaus so viele Ärzte Anweisungen gaben, dass nicht mehr klar war, wer sie befolgen sollte, fasste ich einen Entschluss. Ich verließ meinen nutzlos gewordenen nächtlichen Aussichtspunkt auf dem Dach, ging zurück ins Haus und suchte mir einen Schraubenzieher. Mit dieser Ausrüstung schlich ich über die Straße, blickte mich unterwegs sorgfältig um, verweilte sogar an einer Ecke, bis ich ganz sicher war, dass mich niemand sehen konnte. Ich drängte mich an die Hauswand, um ihr nahe zu sein und den altvertrauten Geruch von Staub und Stein wieder in der Nase zu haben. Nachdem ich meine Schuhe ausgezogen hatte, lockerte ich die Finger.
    Ich war nicht sicher, ob ich es noch einmal schaffen würde. Das alte Glück, aufwärts kriechen zu können, mich über alles zu erheben, kannte ich nicht mehr. Schon lange hatte ich nichts mehr erklettert, nicht einmal einen Zaun. Die Zeit der Abenteuer hatte mit meiner Reise geendet und damit, dass ich begriff, den Boden niemals wirklich verlassen zu können.
    Ich atmete tief ein und presste mich gegen den Stein, tat alles genau so, wie ich es einmal gelernt hatte, doch meine Muskeln versagten den Dienst. Die Kräfte genügten einfach nicht mehr, um mich hinaufzuziehen, vor allem die Finger zitterten so heftig, dass sie aus den Fugen rutschten. Schnaufend sackte ich am Fuß der Mauer zusammen und bedauerte mich selbst. Als ich damit fertig war, ging ich zur Vorderseite des Hauses. Doch ich wagte nicht, hier über die Mauer zu steigen, zu leicht hätten mich die Leute im Erdgeschoss entdecken können.
    Ein paar Meter weiter fand ich ein Wellblechdach, von dem aus es leicht war, auf das Flachdach eines halbverfallenen Wohnhauses zu kommen. Von dort konnte ich hinüberspringen zum schmalen, umlaufenden Geländer vor der Wohnung Steins. Bis auf den Lärm, den ich bei jedem Schritt auf dem Dach erzeugte, verlief alles gut. Hastig schwang ich mich über die Mauer, das alte Haus war offensichtlich verlassen. Ich legte eine Verschnaufpause ein und bereitete mich auf meinen Sprung vor.
    Nichts erinnerte mich an früher, die Nacht schien gewöhnlich und abgenutzt wie ein alter Umhang. Der Blick in die Gasse war enttäuschend. Sie war zwar leer, hatte sich im Vergleich zum Tag jedoch kaum verändert, ihre Farben waren verschwunden, doch das hatte nichts Magisches mehr an sich: Für mich war der Unterschied bedeutungslos geworden.
    Obwohl ich ihn fürchtete, gelang mir der Sprung. Ich bekam das rostige Gitter zu fassen und baumelte daran wie ein Affe. Mich hinaufzuziehen war eine andere Sache, dreimal versuchte ich es vergeblich, bis ich endlich einen Weg fand, indem ich ein Bein auf die Mauerkante schwang. Ächzend wie ein Greis überstieg ich das Geländer, duckte mich und versuchte einen Spalt in den Vorhängen zu finden. Ich gab es schließlich ebenso auf wie meine übertriebene Vorsicht, denn wenn wider Erwarten doch jemand in der Wohnung gewesen wäre, hätte er mich längst gehört.
    Der Schraubenzieher leistete mir gute Dienste; binnen kürzester Zeit war die Fenstertür geöffnet, in der sich mir der Doktor präsentiert hatte. Endlich stand ich in dem Raum, den ich so lange aus der Ferne betrachtet hatte. Vorsichtig tastete ich umher, fand eine Lampe und entzündete sie, um mich respektvoll umzuschauen im Reich dieses Mannes.
    Die Wohnung machte einen aufgeräumten Eindruck, Dr. Stein hatte
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