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Ein unbeschreibliches Gefuehl

Ein unbeschreibliches Gefuehl

Titel: Ein unbeschreibliches Gefuehl
Autoren: Christiane Schlueter
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Männer den Männern, Männer und Frauen einander und Frauen den Frauen, je nach ursprünglichem Geschlecht.
    Ein schöner Mythos! Er erklärt unsere Sehnsucht nach der Liebe: »Von so langem her also ist die Liebe zueinander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wiederherzustellen, und versucht aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen. Jeder von uns ist also ein Stück von einem Menschen, da wir ja zerschnitten, wie die Schollen, aus einem zwei geworden sind. Also sucht nun immer jedes sein anderes Stück.« Nur zu zweit sind wir wirklich vollständig, sagt der Mythos. In der Liebe ergänzen wir einander, und auf diese Ergänzung sind wir angewiesen – auch wenn wir das so genau gar nicht zu benennen wissen. »Wenn aber einmal einer seine wahre eigne Hälfte antrifft, … dann werden sie wunderbar entzückt zu freundschaftlicher Einigung und Liebe und wollen … auch nicht die kleinste Zeit voneinander lassen; und die ihr ganzes Leben lang miteinander verbunden bleiben, diese sind es, welche auch nicht einmal zu sagen wüssten, was sie voneinander wollen«, lässt Platon den Aristophanes klarsichtig feststellen. Die Liebe ist eben ein Mysterium.
    Doch in dem Versprechen, das der Mythos gibt, steckt ein Fluch. »Jeder sucht sein Gegenstück« – das beinhaltet die Schlussfolgerung, es gebe genau ein einziges Gegenstück, das es möglichst zu finden gelte. So erwuchs aus dem Mythos vom Kugelmenschen ein anderer Mythos – der des füreinander bestimmten Paares. Er wurde verstärkt gepflegt, seit Anfang des 19. Jahrhunderts das romantische Ideal der Liebesheirat aufkam. Ehen würden »im Himmel geschlossen«, hieß es fortan mit einer ordentlichen Portion Vertrauen in die Vorsehung. Wie groß musste dann die Enttäuschung sein, wenn das im Himmel verbundene Paar in den Niederungen des Alltags ankam! Vielleicht war der oder die Erwählte doch nicht der oder die »Richtige« gewesen? Vielleicht hätte man besser noch gewartet mit seiner Wahl? Solche Zweifel nagten an den desillusionierten Liebenden, wenn die ersten Auseinandersetzungen kamen. Wenn beide Seiten feststellten: Der andere versteht mich nicht so, wie ich es von einer »wahren eigenen Hälfte« erwarten könnte – in wortloser Übereinstimmung, ohne Erklärungen zu benötigen.
    Hier hätten die Enttäuschten dann weiterlesen müssen im »Gastmahl« bis zu der Stelle, wo Platon den Aristophanes sagen lässt: »Sondern ich meine es …, dass so unser Geschlecht glückselig würde, wenn … jeder seinen eigentümlichen Liebling gewönne, um so zur ursprünglichen Natur zurückzukehren. Wenn nun dieses das Beste ist: so wird notwendig unter dem uns jetzt zu Gebote Stehenden das Beste sein, was jenem am nächsten kommt, und das heißt, einen Liebling zu finden, der jedem nach seinem Sinne geartet ist.« Das bedeutet: Wenn ihr das eine ideale Gegenstück nicht findet, so freut euch über jemanden, der immerhin gut zu euch passt.
    Unterschwellig freilich existiert die Ausschließlichkeit, mit der man an den einen vorherbestimmten Partner glaubt, bis heute. »Ich hab ein Leben lang auf dich gewartet«, gestehen frisch Verliebte einander. Und warum auch nicht? Mit jeder Liebe tritt etwas Neues in die Welt, etwas, das vorher nicht da war. Kein Wunder, dass nun die Zeit davor als weniger vollkommen erscheint. Am Glück der Verschmelzung bemisst sich der Mangel, der logischerweise zuvor geherrscht haben muss, selbst wenn er uns vielleicht nicht bewusst gewesen war. Dass auch jene andere, frühere Lebensphase ihren eigenen Wert besitzt, dass wir eben auch ohne Partner nicht unvollständige, halbierte Wesen sind, wird uns erst dann wieder bewusst, wenn wir aus dem Rausch der Verliebtheit erwachen. Dann bekommen die Welt um uns herum und unser individuelles Dasein ihre eigene Wertigkeit zurück. Diesen Entwicklungsschritt braucht es, damit ein Paar nicht in Symbiose erstarrt. Denn anders als der mythische Kugelmensch der Antike, der seine zwei Gesichter nach außen gerichtet trug, sehen die Liebenden einander an und haben folglich keinen Blick für die Außenwelt. Auf Dauer kann man so nicht leben. Auch als Liebende müssen wir den Blick immer wieder voneinander lösen, um gemeinsam in dieselbe Richtung zu schauen. Wir sind eben nicht einer, sondern zwei.
    Empedokles beschrieb in seinem kosmischen Modell einen Rhythmus von Anziehung und Abstoßung, Verschmelzung und Entfremdung. Auf den Mythos vom Kugelmenschen angewendet, heißt
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