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Ein unbeschreibliches Gefuehl

Ein unbeschreibliches Gefuehl

Titel: Ein unbeschreibliches Gefuehl
Autoren: Christiane Schlueter
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sehen, wie er insgesamt als Person ist. Statt eine aktuelle Verärgerung in den Vordergrund zu rücken, sollen wir das Gute würdigen, das Bleibende, von dem wir ja wissen. Und hoffen wir, wenn wir lieben, nicht doch auch, dass diese Liebe für immer halten möge? Platons Ideenlehre unterstützt eine solche Hoffnung.
    Andererseits: Ganz so, wie die Ideenlehre in der Geistesgeschichte dazu geführt hat, dass das Leibliche, Diesseitige abgewertet wurde, kann sich auch in Liebesdingen das Ideal gegen die Konkretion kehren. Dann lässt man sich von der phantasierten Vollkommenheit blenden und sucht die perfekte Liebe, den perfekten Partner, statt zu akzeptieren, dass es in dieser Welt immer nur das Unvollkommene gibt – die Abbilder statt der Urbilder, um mit Platon zu sprechen. Gegen solche Liebesideale aber kommt niemand an, mit dem Perfekten kann niemand konkurrieren. Die platonische Liebe ist denn auch nicht umsonst die Art von Liebe, die auf ihre sinnliche Erfüllung und damit auf eine Realitätsprobe verzichtet und sich dabei besonders wertvoll dünkt, ganz im Sinne des bekannten Sprichworts: »Die schönsten Lieben sind die unerfüllten.« In diesem Buch werden uns noch einige Denker begegnen, die diesem Motto in Leben und Werk gefolgt sind.
    Gegen solche Missverständnisse hilft nun … wieder Platon! Denn auch wenn der Grieche die »irdische«, auf den einzelnen Menschen gerichtete Liebe der idealen, auf die Idee des Schönen gerichteten Liebe unterordnet, so misst er ihr doch einen eigenen Wert bei. Er sagt: Wir Menschen streben immer danach, uns unsterblich zu machen, indem wir etwas schaffen, etwas zeugen. Dies tun wir in der sexuellen Liebe, aber auch in allen anderen schöpferischen Tätigkeiten. So sind zum Beispiel die politische Ordnung und literarische Werke Früchte eines geistig-seelischen Zeugungsvorgangs. Eros erweist sich hier in einem weiteren Sinn als die Urkraft, die uns zur Kreativität befähigt und uns ermutigt, unsere Welt zu gestalten – im Öffentlichen wie im Privaten. Wenn das keine Aufforderung ist, das Leben zu lieben, so konkret und unvollkommen, wie es nun einmal ist! Die Lust, sagt Platon, gehört dazu. Sie ist eine Stufenleiter auf dem Weg zur idealen Liebe, die wir betreten können, um über sie weiter hinaufzusteigen.
    Die von Platon erfundene Seherin Diotima übrigens, die den Sokrates all dies gelehrt haben soll, spielt in der Geschichte der Liebe eine wichtige Rolle: Mehr als zweitausend Jahre nach Platon griff der Dichter Friedrich Hölderlin ihren Namen wieder auf. Als »Diotima« hat er Ende des 18. Jahrhunderts seine große Liebe, die Frankfurter Bankiersgattin Susette Gontard, in seinem Roman »Hyperion« und in seinen Gedichten unsterblich gemacht.

Geliebtes Gegenstück
    D ie schönsten Lieben sind die unerfüllten« – nach diesem Prinzip scheitern so manche Beziehungen, weil das Ideal eben oft schöner erscheint als die Realität. Einen Mythos gibt es, der das auf die Spitze treibt. Es ist der vom geliebten Gegenstück, bekannter auch als der Mythos vom Kugelmenschen.
    Er findet sich in Platons bereits erwähnter Schrift »Das Gastmahl«. Bevor dort Sokrates erzählt, was ihn die Seherin Diotima lehrte, legt der Komödiendichter Aristophanes seine Ansicht über die Liebe dar. Er tut es mit Hilfe dieses Mythos, der wohl für den literarischen Kontext des »Gastmahls« erst erfunden wurde, also nicht aus grauer Vorzeit und anonymer Quelle stammt wie die »echten« Mythen. Der Mensch, so sagt Aristophanes, war ursprünglich ein Kugelwesen mit vier Armen, vier Beinen und zwei nach außen gekehrten Gesichtern. Drei Geschlechter gab es: rein männliche, mannweibliche und rein weibliche. Diese kugelförmigen Urmenschen hatten solche Kraft und waren so stolz, dass sie den Himmel erobern wollten. Woraufhin dem Göttervater Zeus nichts anders übrig blieb, als sie unschädlich zu machen, indem er sie halbierte. Er hieb der Länge nach mitten hindurch und fasste die Haut vor der Schnittseite zusammen. So entstand der Bauchnabel, der bis heute warnend von der Zweiteilung kündet. Dann drehte Zeus sowohl Gesichter als auch Genitalien auf diese Innenseite. So entstand der heutige Mensch, der in Wahrheit nur ein halber ist, die Hälfte des einstigen kugelförmigen Menschen.
    Wir ahnen, wie es weitergeht. Die beiden Hälften, so grausam getrennt, sehnen sich seither nacheinander. Jede sucht ihr Gegenstück. Und wo immer sich zwei finden, sinken sie einander in die Arme –
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